Die achte Offenbarung
Information. »Ich möchte gern einen Band aus der Sammlung der Codices Palatini germanici ansehen«, sagte er mit gedämpfter Stimme zu einem jungen Mann asiatischer Abstammung.
»Da müssen Sie sich an die Handschriftenabteilung wenden. Gehen Sie bitte die Treppe hinauf, dann durch den oberen Lesesaal.«
In der Handschriftenabteilung wurden sie von einer etwas mürrisch dreinblickenden Mittvierzigerin empfangen.
»Ich hätte gern Einblick in eine Handschrift, Nummer 34 aus den Codices Palatini germanici.«
»Schon wieder! Ist irgendwas los mit dem Buch?«
»Wieso?«
»Niemand wollte diese Handschrift in den – warten Sie – letzten fünf Jahren sehen. Und heute sind Sie schon der Zweite, der danach fragt!«
»Der andere, war das so ein Typ mit schulterlangen Haaren und Brille, der ein bisschen wie John Lennon aussah?«
»Schon möglich. Ist er ein Kommilitone von Ihnen?«
»Äh, so ähnlich. Wissen Sie zufällig, wo er ist?«
»Nein. Ich habe ihn wieder weggeschickt. Er hatte nicht mal einen Leseausweis.«
»Wann war er hier?«
»So vor zwei Stunden ungefähr.«
Paulus überlegte. Natürlich war es naiv gewesen, zu glauben, dass sie Dirk hier im Lesesaal sitzend finden würden. Wenigstens hatte er keinen Zugang zu dem Schlüsselbuch bekommen. Ohne es würde ihm das Manuskript wenig nützen. Vielleicht war es doch gut gewesen, dass Mele ihm eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen hatte, auch wenn Paulus bezweifelte, dass Dirk so schnell zur Vernunft kommen würde.
»Mein Name ist Paulus Brenner vom Institut für mittelalterliche Geschichte der Universität Hamburg«, sagte er und versuchte, all seinen Charme in seine Stimme zu legen. »Es wäre sehr wichtig für mich, Einblick in den Codex zu bekommen.«
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Sie sind wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität?«
»Ja.«
»Ihnen ist bewusst, dass man üblicherweise vorher anruft und einen Termin macht, oder?«
»Ja, natürlich, ich weiß. Aber ich bin einer wichtigen Entdeckung auf der Spur, und …«
»Darf ich bitte mal Ihren Mitarbeiterausweis sehen?«
Zum Glück trug Paulus ihn immer bei sich. Er hielt ihr die Plastikkarte hin.
Die Frau wählte eine Nummer auf ihrer altmodischen Telefonanlage. »Dr. Braun? Hier ist jemand von der Uni Hamburg, der sagt, er müsse dringend einen Band der Codices Palatini germanici sehen. … Ja, ist gut.«
Sie legte auf. »Sie werden gleich abgeholt.« Damit wandte sie sich einer Studentin zu, die eine Frage hatte.
Kurz darauf erschien ein hagerer junger Mann mit Bürstenschnitt, der einen schlecht sitzenden grauen Anzug trug. Er stellte sich als Dr. Joachim Braun vor.
Paulus gab ihm die Hand. »Paulus Brenner.«
»Und wer ist die junge Dame hier?«
»Meine Assistentin. Frau, äh, Kallen.«
»Nennen Sie mich einfach Mele.« Sie gab Braun die Hand.
Er grinste schief. »Folgen Sie mir bitte.«
Braun führte sie in einen kargen Raum ohne Fenster. Ein Tisch und vier Holzstühle waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. »Setzen Sie dich doch! Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke«, erwiderte Paulus, während Mele gleichzeitig sagte: »Ja, gern. Schwarz bitte.«
Braun nickte und verschwand aus dem Raum.
Paulus warf einen Blick auf sein Handy. Kein Empfang. Vielleicht gab es hier im Bibliotheksbereich irgendwelche Abschirmungen, die verhinderten, dass dauernd Handys klingelten und die Lesenden störten. Er konnte nur hoffen, dass Dirk nicht ausgerechnet jetzt anrief.
Braun kehrte mit zwei Plastikbechern Kaffee zurück. »Sie arbeiten für Professor Degenhart?«
»Ja«, sagte Paulus, während er innerlich zusammenzuckte. Wenn dieser Dr. Braun Degenhart kannte, ihn anrief und ihm von Paulus’ Besuch hier erzählte, konnte das eine Lawine unangenehmer Fragen auslösen.
»Ich habe bei ihm promoviert, als er noch in Mannheim war. Harter Knochen, was?« Er grinste.
Paulus lächelte schwach. »Kann man wohl sagen. Ich hätte gern Einblick in ein Exemplar Ihrer Sammlung mittelalterlicher Handschriften. Codices Palatini germanici, Nummer 34. Wäre das möglich?«
»Die Armenbibel? Was interessiert Sie denn ausgerechnet daran?«
Paulus improvisierte. »Professor Degenhart ist voneiner Versicherung gebeten worden, als Experte das Alter eines Manuskripts zu beurteilen. Er hat mich gebeten, mir ein paar Details der Bindungstechnik anzuschauen, damit ich sie vergleichen kann.«
»Hmm. Hätte nicht gedacht, dass der Alte sich auch mit so was auskennt.
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