Die achte Offenbarung
Dirk jetzt?«, fragte Paulus, ohne genau zu wissen, warum er plötzlich die Sprache auf Meles Mitbewohner brachte.
Sie wurde ernst. »Keine Ahnung. Er ist sicher immer noch ziemlich sauer auf dich. So was kann bei ihm länger anhalten.«
»Meinst du, er macht dir Ärger, wenn du wieder zurück in eure WG kommst?«
Mele schwieg einen Moment. Paulus fragte sich, ob er etwas Falsches gesagt hatte.
»Ich werde schon mit ihm fertig«, antwortete sie schließlich. »Er kann ziemlich anstrengend sein, aber im Grunde ist er ein netter Kerl.«
»Und Mike? Wie ist der so?«
»Ganz okay, aber ein bisschen langweilig. Er lernt immer nur und macht seinen Kraftsport. Und du? Was machst du so in Hamburg?«
Paulus zuckte mit den Schultern. »Das Leben eines Historikers ist nicht besonders aufregend, fürchte ich.« Er begann, ihr von seiner Arbeit zu erzählen, wie er anhand von alten Dokumenten die Wirtschaftsverflechtungen der Hanse nachzeichnete, deren Handelsbeziehungen bis nach Asien gereicht hatten. Mele war eine gute Zuhörerin. Sie stellte an den richtigen Stellen Fragen, die von einem wachen Verstand zeugten. Es machte Spaß, hier mit ihr zu sitzen, und er vergaß völlig, in welcher lebensbedrohlichen Situation sie eben noch gewesen waren.
Irgendwann merkte er, dass es dunkel geworden war. Er winkte die Kellnerin heran, um zu bezahlen. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er kein Bargeld mehr hatte. Zum Glück akzeptierte das Restaurant seine Kreditkarte.
Er bestellte ein Taxi für den Weg zurück zum Parkhaus, in dem der Mietwagen stand. Unterwegs hielten sie an einem Geldautomaten an. Paulus dachte mit einigem Schrecken daran, wie viel ihn dieses Abenteuer bisher gekostet hatte. Andererseits: Wenn es ihm gelang, mit Hilfe des Manuskripts eine religiös motivierte Verschwörung gegen Bismarck nachzuweisen, würde er sich in der Historikergemeinschaft einen Namen machen – und vielleicht mehr über die Geschichte seiner Familie erfahren.
31.
Worms, Freitag 00:11 Uhr
Sie übernachteten in einem einfachen Hotel am Stadtrand von Worms nahe der A 61. Als sie im Aufzug in die dritte Etage fuhren, durchzuckte Paulus der Gedanke, dass er Mele fragen könnte, ob sie zum Abschluss eines aufregenden Tages nicht noch zusammen die Minibar in seinem Zimmer plündern sollten.
Er verwarf den Gedanken. Er wollte nicht so enden wie Dirk: unglücklich verliebt in ein Mädchen, das nicht bindungsfähig zu sein schien. Doch es kostete ihn einige Überwindung, einfach nur »gute Nacht« zu sagen und die Tür hinter sich zu schließen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Am nächsten Morgen wachte er früh auf und machte sich an die Arbeit, ohne Mele zu wecken. Er hatte die wichtigsten Punkte aus der
Entschlüsselungsanleitung auf einem Zettel aufgelistet:
Hundertsechzig Ziffern, immer zwei davon ein Buchstabe
Rechnende Mühlen
Zahl im Napf des Bischofs
Zahl des Rades, das sich endlos dreht
Jedes Korn nur ein Zehntel des vorigen
Zahl in der Zahl
(Das Korn, das der Anfang ist) liegt in dem Rechteck, das Länge und Breite bilden, im Maße Roms
Er betrachtete die Zahlen, die er gestern in der Krypta notiert hatte. Die Reihen der Steine im Inneren des Quadrats:6, 8, 6, 8, 7, 7, 8. Dann die äußeren Steinreihen: 6, 7, 8, 7, 7, 8, 8, 8, wobei die Reihenfolge dieser Ziffern recht willkürlich war, je nachdem, wo man anfing zu zählen. Dies waren bei weitem nicht 160 Ziffern, aber sie konnten durchaus den Anfang einer Zahlenreihe bilden, hinter der sich der Code verbarg. Dafür sprach auch der Hinweis auf die rechnenden Mühlen: Mit einer simplen Rechenmaschine waren solche Zahlenreihen schneller zu erstellen als mit der Hand. Auch »das Rad, das sich endlos dreht« konnte auf eine endlose Zahlenfolge hindeuten.
Das Ganze erinnerte ihn ein wenig an Rätselaufgaben, wie man sie manchmal in Zeitschriften fand. Setzen Sie die folgenden Zahlenreihen fort: 1, 2, 3, 5, 7, 11, 13 … oder 31, 28, 31, 30, 31 …
Es ging dabei darum, die Gesetzmäßigkeit zu finden, die hinter der Zahlenreihe lag. Im ersten Beispiel handelte es sich einfach um alle Primzahlen. Für die zweite Aufgabe hatte Paulus etwas länger gebraucht, bis er begriffen hatte, dass es sich um die Zahl der Tage in den Monaten gehandelt hatte und die nächste gesuchte Zahl somit 30 war. Hatte man das Bildungsgesetz einmal entdeckt, konnte man meist eine beliebig lange Zahlenreihe ableiten.
Welches Bildungsgesetz aber mochte hinter den Zahlen stecken, die er notiert
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