Die achte Offenbarung
eques, huc Bacchi munera fundit; Virginis a templo cleri simul ecclesiarum – Terminus et limes, stat libertatis asylum; Et fit confugium, portus et ara reis. 1490
Eine Metallplatte im Boden vor dem Brunnen lieferte die grob in deutsche Reime übertragene Übersetzung:
Hier leset männiglich, ihr lieben Leute,
was dieser Napf, die Schüssel hohl, bedeute:
So oft ein Bischof, hoch zu Ross,
begleitet von fürnehmem Tross,
erstmals in diese Stadt sich wendet,
er seinen Willkommtrunk hier spendet.
Vorm Münster Unsrer Lieben Frau
im Napfe Mark und Grenzmal schau.
Von geistlicher Immunität
als ein Asyl der Freiheit steht.
Das Messingband sah kaum verwittert aus. Es erschien unwahrscheinlich, dass es tatsächlich aus dem Jahr 1490 stammte. Andererseits mochte es sein, dass es im Laufe der Zeit erneuert worden war, vielleicht mehrfach. Der Text jedenfalls deutete auf eine Zeit hin, in der sich dieKirche noch über die weltliche Gerichtsbarkeit hatte stellen können.
War die Inschrift der Schlüssel, den sie suchten?
Paulus sah sich nervös um. Immer noch war von ihren Verfolgern nichts zu erkennen. Trotzdem wagte er es nicht, Zettel und Stift aus der Tasche zu holen und den Text einfach abzuschreiben.
»Stell dich mal da neben den Brunnen«, sagte er und holte sein Handy hervor. »Ich will ein Foto von dir machen.«
Mele sah ihn verwirrt an. »Jetzt?« Dann begriff sie und lächelte. »Klar!«
Er drückte auf den Auslöser. »Und jetzt mit dem Dom im Hintergrund, ja?«
Mele platzierte sich an einer anderen Stelle. Paulus wechselte die Position und fotografierte erneut Mele und den Brunnen. Für einen Beobachter aus der Distanz waren sie bloß ein Pärchen, das Urlaubsfotos machte.
Ein paar Schnappschüsse später hatte er den Brunnen von allen Seiten fotografiert. Er kontrollierte die Qualität der Bilder. Man konnte die Inschrift problemlos lesen.
»Lass uns den Dom ansehen«, sagte er.
Die gewaltige Tür aus schwarzem Eisen war mit Reliefs bedeckt, die biblische Szenen zeigten. Über dem Eingang stand der lateinische Spruch UT UNUM SINT – damit sie eins seien.
Angenehme Kühle empfing sie im Inneren der Kathedrale. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, hatte Paulus das Gefühl, die Anspannung und Gefahr der letzten Tage draußen zurückzulassen.
Im Vergleich zum Kölner Dom mit seiner einschüchternden Strenge wirkte die Kathedrale wesentlich heller und freundlicher, aber nicht weniger eindrucksvoll. Esgab keine Glasmalerei, dafür zeigten Fresken an den Wänden zwischen den gewaltigen Säulen biblische Szenen in leuchtenden Farben.
Die Kathedrale war menschenleer bis auf einen Pastor in dunkler Robe, der auf sie zukam. »Wir schließen in fünf Minuten«, sagte er.
Paulus nickte. Er holte sein Handy hervor und machte ein paar Bilder, um den Anschein eines Touristen zu wahren. Sie gingen das rechte Seitenschiff entlang und stiegen eine Treppe hinauf bis zu dem schmucklosen Altar, der auf einem leicht erhöhten quadratischen Podest stand und von allen Seiten zugänglich war.
Paulus holte den Zettel hervor und überflog die entscheidende Passage:
Er wird die Zahl im Brunnen finden wie im Napf bei der Kirche des Bischofs. Denn es ist die Zahl des Rades. Und jenes Rad, das sich endlos dreht, mahlt die Zahl zu Staub, jedes Korn nur ein Zehntel des vorigen. Die Körner aber sind zahlreicher als die Sterne des Himmels und mehr als die Sandkörner in der Wüste.
Von diesen muss er das Richtige benennen, denn es ist der Anfang, und die Folgenden sind Zahl in der Zahl, und sie sind Chaos und sind doch wohlgeordnet, so wie die Welt scheinbar Chaos ist und doch von göttlicher Hand gestaltet. Jenes Korn aber liegt in dem Rechteck, das Länge und Breite der Kirche bilden, im Maße Roms.
Was mochte das bedeuten? Der letzte Satz jedenfalls schien sich auf dieses Quadrat zu beziehen, auf dem der Altar stand – genau im Kreuz aus Längs- und Querschiff. Aber welches Korn lag hier? War damit der Altar selbst gemeint? War das Korn vielleicht nur ein Symbol für JesusChristus, aus dem das Christentum hervorgesprossen war? Aber für welche Zahl stand es dann, und welche Zahlen folgten ihm? Bezogen sich die »Folgenden« auf Jesus’ Jünger, auf die Apostel, auf die Christenheit? Und was hatte das »Maß Roms« damit zu tun?
Paulus fiel ein, dass der Dom Grabstätte zahlreicher Kaiser und Könige war. Es gab hier eine Krypta, die vermutlich genau unter dem Altar lag. Vielleicht fanden sie dort einen
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