Die Achte Suende
Minuten den Ausblick über die Dächer der Stadt genossen hatte, beschloss Anicet, zu Fuß zum Café Aragno nahe der Piazza Colonna zu schlendern. Dort, und nicht etwa im Café degli Inglesi oder im Café del Buon Gusto, wo jeder jeden kannte, war er unter Einhaltung äußerster Diskretion zu einem Treffen verabredet.
Im Aragno wurde Anicet schon erwartet. John Duca, Leiter des IOR, wie immer im grauen Flanell, wirkte aufgebracht. Herzlich fiel ihre Begrüßung nicht aus. Kein Wunder, die beiden Männer waren nicht gerade Freunde. Das Einzige, was sie zueinanderbrachte, war ihr gemeinsamer Feind. Und das genügte bei Gott.
»Was trinken Sie?«, erkundigte sich John Duca einladend.
»Kaffee«, erwiderte Anicet knapp.
Nachdem Duca den Kaffee geordert hatte, begann er: »Ich darf Sie doch Anicet nennen?«
Anicet nickte mürrisch: »In Ordnung. Anicet lautet mein Name, seit ich meine Mitra an den Nagel gehängt habe. Zur Sache.«
»Sie machten am Telefon eine Andeutung!«
»Ganz recht. Es geht um das Turiner Grabtuch.«
»Interessant.«
Ducas Bemerkung irritierte Anicet: »Ihre Ironie wird Ihnen gleich vergehen. Es ist nämlich so: Bis vor wenigen Tagen glaubte meine Bruderschaft, das Grabtuch des Jesus von Nazareth befände sich in unserem Gewahrsam.«
»Ach ja?«, erwiderte Duca spitz. »Ich glaube, da muss ich Sie enttäuschen, Anicet. Soweit mir bekannt ist, wird das Grabtuch seit nicht allzu langer Zeit im Vatikanischen Geheimarchiv aufbewahrt. Es wurde auf Veranlassung von Kardinal Moro gegen eine Fälschung ausgetauscht. Das bedeutet, die Kopie befindet sich heute in Turin, das Original im Vatikan.«
Anicet machte ein ernstes Gesicht: »Das glauben
Sie
!«
»Wie meinen Sie das?«
»Der Tresor im Vatikan, wo das versiegelte Paket mit dem Grabtuch aufbewahrt wurde, ist nämlich leer.«
»Entschuldigen Sie, Anicet, woher wollen Sie das wissen?«
»Dieses Grabtuch befindet sich im Besitz der Bruderschaft der Fideles Fidei Flagrantes.«
»Das halte ich schlichtweg für unmöglich.«
Anicet lachte überheblich: »Dem nicht genug. Der Kardinalstaatssekretär hat uns die Reliquie eigenhändig sozusagen frei Haus geliefert.«
»Gonzaga?«
»So ist doch der Name Seiner Exzellenz.«
»Augenblick!«, unterbrach John Duca sein Gegenüber. »Wir haben es beide mit demselben Gegner zu tun. Ich glaube, wir sollten mit offenem Visier kämpfen und uns gegenseitig nichts vormachen. Ich rekapituliere: Sie behaupten, Gonzaga habe Ihnen, beziehungsweise Ihrer Bruderschaft, das Grabtuch ausgeliefert. Das ist doch völlig absurd!«
»Ich wage Ihnen nicht zu widersprechen! Noch absurder wird die Angelegenheit allerdings dadurch, dass das Grabtuch, welches im Vatikanischen Geheimarchiv aufbewahrt wurde und das sich jetzt in unserem Besitz befindet, doch nicht das Original ist, sondern eine verdammt gut gemachte Kopie.«
»Das würde ja bedeuten, dass das in Turin aufbewahrte Grabtuch doch das Original ist!«
»Das ist
eine
Möglichkeit.«
»Und die andere?«
Anicet spitzte den Mund: »Das würde ich gerne von Ihnen hören!«
»Sie meinen, es ist noch eine weitere Kopie in Umlauf?«
»Das, lieber John, wäre allerdings töricht. Denn damit erhöhte sich das Risiko, entdeckt zu werden, um hundert Prozent. Nein, für so dumm halte ich Gonzaga nicht. Nach meinem Empfinden läuft hier etwas konträr zu jeder logischen Erklärung.«
John Duca rührte ratlos in seiner Kaffeetasse. Nach einer Weile blickte er auf und sah sich in dem Lokal um, ob niemand sie beobachtete.
Treffen wie diese waren ihm nicht fremd. Geldgeschäfte der besonderen Art wurden nie in teuren Sterne-Restaurants, auch nicht im Vatikan, wo die langen Gänge tausend Augen und die weiten Räume tausend Ohren hatten, eingefädelt. Für Begegnungen, die niemand mitbekommen sollte, mischte man sich unters Volk.
»So wie ich Sie einschätze«, begann Duca erneut, »geht es Ihnen doch nicht um die heilige Reliquie unseres Herrn?«
»Da liegen Sie durchaus richtig.«
»Dann frage ich Sie, wozu in aller Welt brauchen Sie unbedingt das Original? Das Original ist doch absolut unverkäuflich. Der Wert ist von rein ideeller Natur.«
Anicet schwieg. Er blickte beinahe verlegen zur Seite.
»Dann erlauben Sie mir aber die Frage«, fuhr John Duca schließlich fort, »was wollen Sie eigentlich von mir? Oder glauben Sie, ich bin auf irgendeine Art in die Geschichte verwickelt?«
»Um Himmels willen, nein!« Anicet hob beide Hände. Doch er wirkte nicht sehr
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