Die Achte Suende
Fahrtziel. Die kleine Seitenstraße, in der ihr Haus stand, kannte ohnehin kein Taxifahrer in Rom.
Auf den ersten Kilometern verlief die Fahrt schweigend. Die Marchesa bereute, auf dem Beifahrersitz Platz genommen zu haben, denn der Kerl gaffte sie ununterbrochen von der Seite an.
»Sie sollten besser auf den Verkehr achten«, mahnte sie.
»Gewiss, Signora«, erwiderte der Taxifahrer betont höflich. Gleichzeitig fühlte er sich zu der Frage ermutigt: »Wie lange?« Dabei setzte er erneut sein provozierendes Grinsen auf.
»Was soll das heißen: Wie lange?«
Mit der Faust und dem gestreckten Daumen seiner Rechten zeigte der Fahrer nach rückwärts: »Ich meine, wie lange mussten Sie in Santa Maddalena sitzen?«
»Das geht Sie nun wirklich nichts an!«, entgegnete die Marchesa aufgebracht. »Warum wollen Sie das wissen?«
Der Fahrer hob die Schultern: »Nur so! Ich hatte da mal einen Fahrgast, eine Signora, mittleren Alters, nett anzusehen, die kam auch gerade aus Santa Maddalena. Als ich sie fragte: Wohin?, meinte sie: ›Egal wohin. Ich habe seit fünfzehn Jahren nichts mehr gesehen.‹ Fünfzehn Jahre, das müssen Sie sich einmal vorstellen! Sie verfuhr mit mir beinahe das ganze Geld, das sie im Knast verdient hatte. Bevor sie ausstieg, es war schon gegen Abend, da konnte ich mir die Frage nicht verkneifen, warum sie denn so lange gesessen habe. Wissen Sie, warum, Signora? Sie hatte ihre Nebenbuhlerin erschossen. Und sie sagte, sie würde es sofort wieder tun. Da war ich froh, als sie ausstieg.«
»In dieser Hinsicht haben Sie von mir nichts zu befürchten«, bemerkte Lorenza Falconieri trocken. »Ich hatte nur zwei Wochen das Vergnügen, und umgebracht habe ich auch niemanden.«
»Nur zwei Wochen?« Die Stimme des Taxifahrers klang beinahe enttäuscht. »Muss ein verdammt guter Anwalt gewesen sein.«
Die Marchesa nickte. Sie hatte wenig Interesse daran, das Gespräch fortzusetzen.
»Werden Sie von jemandem erwartet?«, unterbrach der Fahrer eine längere Zeit des Schweigens.
Lorenza antwortete nicht und blickte teilnahmslos durch die Windschutzscheibe.
»Ich frage nur deshalb, weil uns seit Santa Maddalena ein dunkler Mercedes verfolgt. Kann natürlich auch ein Zufall sein.«
»Das glaube ich auch«, gab die Marchesa genervt zurück. Wer sollte sie schon abholen oder gar verfolgen, wo sie selbst erst am frühen Morgen von ihrer Entlassung erfahren hatte?
Als das Taxi in die Via dei Coronari einbog, zog die Marchesa einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche und reichte ihn dem Fahrer: »Der Rest ist für Sie. Wenn Sie mich dort vorne an der Ecke absetzen wollen …«
Die Marchesa stieg aus und nahm den Weg in die schmale Seitenstraße mit den etwas heruntergekommenen Häusern. Um die Mittagszeit lag die linke Straßenseite, wo sich ihr Haus befand, im Schatten. Lorenza Falconieri genoss die kühlere Schattenseite. Im Gehen kramte sie in ihrer Reisetasche nach dem Wohnungsschlüssel, als sie ein schriller Hupton erschreckte.
Sie wandte sich um und blickte in einen grellen Feuerschein. Er kam geradewegs aus dem Seitenfenster einer dunklen Limousine. Es gab keinen Knall. Jedenfalls hörte die Marchesa nichts. Sie spürte nur einen heftigen Schlag gegen die linke Brust. Einen Schlag, der so stark war, dass ihr der Atem wegblieb. Sie versuchte Luft zu holen. Vergeblich. Die Anstrengung hatte zur Folge, dass links, wo das Herz schlägt, ein Schwall warmes Blut herausströmte und ihre Kleidung durchtränkte.
Erst jetzt – Sekunden waren vergangen, und das Fahrzeug, aus dem der grelle Feuerschein kam, hatte die Flucht ergriffen – erst jetzt kam der Marchesa zu Bewusstsein, dass jemand auf sie geschossen hatte. Sie fühlte keinen Schmerz. Der Schock, sagt man, unterdrückt jedes Schmerzempfinden.
Ob sie jetzt wohl sterben müsste? Ein Schuss mitten ins Herz musste doch tödlich sein. Sterben, so hatte sie sich immer vorgestellt, müsse wehtun. Wo war der Schmerz?
Statt Schmerz setzte Benommenheit ein. Alle Geräusche verschwanden, lediglich das schnarrende Rasseln, das ihr ruckartiger Atem verursachte, blieb.
Lorenza Falconieri merkte, wie ihre Knie einknickten und dass sie auf allen vieren über das Bordsteinpflaster kroch wie ein Hund. Sie dachte an Nebensächlichkeiten. Ob sie die letzte Telefonrechnung überwiesen hatte, ob sie saubere Unterwäsche trug und wer wohl das Namensschild an der Wohnungstür abmontieren würde. Dann konnte sie sich nicht mehr halten, kippte stumm zur Seite, blieb mit
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