Die Achtsamkeits-Revolution
gerichtete Achtsam- keits-Praxis darin, dass wir die Spanne unseres Gewahrseins von unseren Atemvorgängen ausdehnen. Das erfordert einen wachen Geist. Die Konzentration soll aber nicht angespannt, sondern ausgewogen sein. Wenn wir merken, dass wir wieder von unserem Meditationsobjekt abgelenkt sind, haben wir vielleicht den ganz natürlichen Impuls, schärfer vorzugehen und die Konzentration äußerst straff zu halten. Das kann man am Gesichtsausdruck der Menschen ablesen, die sich auf diese Art zu konzentrieren versuchen: Sie spitzen den Mund, ziehen die Augenbrauen zusammen und runzeln die Stirn. Sie sind dann konzentriert, aber so wie Orangensaftkonzentrat - der Großteil der Flüssigkeit wird dem Geist entzogen! Wenn Sie sich für kurze Zeit konzentrieren wollen und Ihnen die Nebenwirkungen von Anspannung und Erschöpfung nichts ausmachen, können Sie diese Strategie anwenden. Wenn Sie aber dem Shamatha-Pfad fölgen wollen, brauchen Sie eine Alternative. Ein Umstand, den ich durch persönliche Erfahrung entdecken musste. Bei meinem ersten ausgedehnten Shamatha-Retreat war ich voller Enthusiasmus. Ich wollte die kostbare Chance, die sich hier für mich ergab, voll und ganz nutzen, denn ich meditierte in Indien unter der Anleitung des Dalai Lama! Ich hatte keine finanziellen Sorgen und für meine materiellen Bedürfnisse war gesorgt. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als die Anweisungen in die Praxis umzusetzen. So warf ich mich mit meiner ganzen Kraft auf dieses Training.
Ich erhob mich jeden Morgen um 3 Uhr 30, nur einmal schlief ich bis 3 Uhr 45 und regte mich darüber auf, dass ich derart nachließ. Ja, ich war voller Enthusiasmus, aber ich war auch äußerst angespannt. In den tibetischen Handbüchern zur Shamatha-Me- ditation, die ich im Lauf der Jahre studiert hatte, stand zu lesen, dass am Anfang dieser Praxis eine Art »stark fokussierte« Achtsamkeit vonnöten sei, und daher versuchte ich, so sehr wie ich nur irgend konnte, meinen Geist vom Wandern abzuhalten. Indem ich jeden Tag viele Stunden der Meditation widmete, konnte ich binnen weniger Wochen meine Achtsamkeit bis zu einer halben Stunde auf ein ausgewähltes Objekt gerichtet halten. Dieser rasche Fortschritt versetzte mich in Hochstimmung. Doch dann stellte ich nach Wochen fest, dass ich immer matter wurde. Ich erschöpfte mich sowohl physisch wie mental, meine Freude an der Praxis minderte sich entsprechend, und ich merkte, dass ich mich in meinem Achtsamkeitsvermögen nicht mehr weiterentwickelte. Was lief schief? Ich strengte mich zu sehr an. Das Kultivieren von Shamatha beinhaltet, dass man den Geist in den Zustand der Ausgewogenheit versetzt, und das wiederum beinhaltet, dass man die in der Praxis aufgewandte Anstrengung durch Entspannung ausbalanciert. Ich denke, dies verweist auf einen kulturellen Unterschied zwischen den Tibetern, die ein traditionelles Leben in den Hochebenen Tibets führen, und den schnelllebigen modernen Menschen, deren Sinne fortwährend von Telefonen, E-Mails, den Medien und Lärm bombardiert werden. Jahre der Existenz unter solchen Bedingungen wirken sich auf das Nervensystem und den Geist in einer Art und Weise konditionierend aus, die im ländlichen Tibet als Folter betrachtet worden wäre. Ein mir bekannter traditioneller tibetischer Arzt sagte einmal über die im Westen lebenden Menschen: »Aus der Sicht der tibetischen Medizin leidet ihr alle unter Störungen des Nervensystems. Aber in Anbetracht dessen, wie krank ihr seid, kommt ihr bemerkenswert gut zurecht!« Ob wir nun in Boston, Buenos Aires, Berlin oder Beijing wohnen, unser Geist ist dazu konditioniert, nervöser zu sein und sich in stärkerem Maße dem zwanghaften Denken hinzugeben, als es bei den vor einem Jahrhundert lebenden tibetischen Nomaden und Bauern der Fall war. Wenn also tibetische Meditationshandbücher Anfängern den Rat geben, ihre Achtsamkeit stark zu fokussieren, zielen diese Anweisungen auf ganz andere Leser als den Durchschnittsstadtbewohner des 21. Jahrhunderts ab. Bevor wir eine stabile Achtsamkeit entwickeln können, müssen wir erst lernen, uns zu entspannen. Die folgende Meditationsanleitung verbindet das Praktizieren von Entspannung mit der Anweisung für die auf die Atmung gerichtete Achtsamkeit.
DIE PRAXIS:
AUF DIE ATMUNG GERICHTETE ACHTSAMKEIT IN VERBINDUNG MIT ENTSPANNUNG
Da unser Geist mit dem Körper verbunden ist, müssen wir den Körper in unsere Meditationspraxis einbeziehen. Wir tun das,
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