Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
haben«, sagte Trine und sah sich den angeblichen Kross an. Fünf Minuten musste sie warten, bis sie das erste bekannte Gesicht in Lumpen sah. Jedermann kannte sie als die »Detmolderin«. Trine hatte ihr zweimal helfen können, mit einem Mantel im Winter und einem Verband, als sie betrunken einen Wettlauf mit einem Fuhrwerk austragen wollte und dabei gestürzt war.
»Wer? Der? Was ist mit dem? Hat er wieder was angestellt? Sagt es mir, ich geh rüber und hau ihm eine rein. Ich mach das, der hat Angst vor mir, das kann Euch jeder …«
Sie bremsten die eifrige Bettlerin. »Nur den Namen«, sagte Trine eindringlich. »Wie heißt der Mann, auf den ich zeige?«
»Das ist Kross. Wie der Braten, wenn er lange genug im Ofen war. Wir nennen ihn so, weil er einen verbrannten Arm hat. Er sagt, er heißt wirklich so. Kross lügt viel, wenn der Tag lang ist. Soviel Reden macht durstig, ich weiß nicht, wie lange ich noch ohne Trinken überleben …«
Erfreut zog sie mit dem Almosen davon.
44
Joseph Deichmann besaß ein Gespür für menschliche Zustände und Bedürfnisse. Als Wirt musste man imstande sein, feine Töne zu erkennen und zu unterscheiden, mit den Jahren hatte er sich in diesen Fähigkeiten ständig verbessert. So war es zu erklären, dass der Besitzer der Fluchbüchse oft schon Bescheid wusste, bevor sein Gesprächspartner die ersten Worte ausgesprochen hatte. Bei vielen Menschen war es leicht, den Braten zu riechen; bei einigen dauerte es länger; bei einer einzigen Person stellten sich Josephs Nackenhaare in die Höhe, wenn sie noch den Drücker der Türklinke in der Hand hielt.
Um das Unabänderliche, wenn nicht abzuwenden, so doch hinauszuschieben, nahm er Trine in die Arme und schwenkte sie im Kreis herum. Sie ließ sich das gefallen, und sagte, noch während sie in der Luft hing: »Du kommst mir trotzdem nicht davon.«
»Es ist so ein schöner Tag«, säuselte Joseph.
»Und er wird auch schön bleiben – vorausgesetzt, du machst keine Ausflüchte, sondern konzentrierst dich auf die Wahrheit.«
In mimischer Übertreibung wiederholte er das Wort. » Wahr-heit ? Wollen wir beide ein Stündchen hinauf gehen und du bringst mir bei, was das ist, diese Wahr-heit , von der alle sprechen, besonders in der Kirche und im Gasthaus nach dem zehnten Becher Wein?«
»Ich sage dir ein Wort, und du sagst mir, was dir dazu einfällt.«
»Ist das ein neues Spiel?«
»Bist du bereit? Ich fange an: Kardamom.«
»Gesundheit.«
»Joseph, bitte. Sei jetzt ernst.«
Gehorsam zählte er alles auf, was er über das Wort wusste. Auch über die folgenden Worte Minze, Kamille, Anis, Ingwer.
»Du solltest das Spiel mit dem Ratsapotheker spielen. Der ist bei uns bekanntlich für das Konfekt zuständig.«
»Und für die Zutaten«, sagte Trine zuckersüß.
»Natürlich. Ohne Zutaten kein Konfekt.«
»Aber jetzt ist nicht die Zeit für Konfekt oder?«
»Nein, meine Liebe, das stellt er erst später im Jahr her, wenn es kälter wird.«
»Sehr gut, Schüler Joseph. Die Gewürze sind teuer, nicht wahr?«
»Nach allem, was man hört.«
»In einem gewöhnlichen Gasthaus wird nicht mit solchen Gewürzen gekocht.«
»Es sei denn, der König hat sich angekündigt.«
»Aber ab und zu gibt es einen Wirt, der über bessere Beziehungen verfügt als andere Wirte.«
»Ach, ja? Ist das möglich?«
»Joseph!«
»Ja, Frau Lehrerin. Ihr habt recht, Frau Lehrerin. Solche Wirte gibt es wohl.«
»Sie beschaffen solche Gewürze, auch wenn es nicht der König ist, der bei ihnen speist. Manchmal reicht es schon, wenn bekannte Bürger ihnen die Ehre geben.«
»So einen Wirt würde ich gern kennenlernen .«
»Hör zu, Joseph, es ist sehr wichtig, und deshalb musst du jetzt die Wahrheit sagen: Als Anna Rosländer zu uns kam, hast du da diese Gewürze besorgt? Ich weiß, was an dem Abend auf den Tisch gekommen ist, aber ich hatte nicht die Zeit, alles selbst zu schmecken.«
»Das ist gut. Deshalb hat es für alle gereicht.«
»Aber einiges war dabei, das habe ich gerochen und in der Küche gesehen, auch wenn ich nicht gekocht habe. Außerdem glaube ich mich daran zu erinnern, dass du, als ich zur Geburt musste, gerade am großen Tisch standest und den Gästen Anis vorgeführt hast. Oder etwas anderes, lenk jetzt nicht ab. Auf den Namen kommt es nicht an. Sag mir einfach, ob ich recht habe?«
»Würde dir das Freude bereiten?«
»Die Wahrheit, Joseph. Nichts als die Wahrheit. Nur die Wahrheit. Dieses stärkste aller Gewürze.«
Er
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