Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
ich am liebsten lese, vielleicht steht es in Persien und nicht in Lübeck. Was weißt du, Trine Deichmann, davon, wie die Chinesen ihre Kinder bekommen? Wer sagt unserer Malerin, dass sie in Amerika Farben haben, die wir nie gesehen haben? Und Leinwände, die wir nie berührten? Was wäre, wenn es einen Ort auf der Erde gäbe, wo sie die Pest besiegt haben? Und einen anderen Ort, wo sie die Zeit anhalten und es ist so lange Tag, bis sie wieder Lust darauf haben, dass es dunkel wird? So vieles ist möglich, was keiner von uns jemals gedacht hat, und alles, was wir brauchen, ist unsere Neugier und ein Schiff, das stark genug ist, um uns dorthin zu bringen. Und danach, das wäre nett, wieder zurück nach Lübeck, wo meine Heimat ist.«
Sie trat an den Tisch, stürzte das Bier in die Kehle und nahm das neue Glas, das ihr Sybille entgegenhielt.
»Ich habe mich immer für neugierig gehalten, wisst ihr. Ich war überzeugt, dass ich noch vieles vor mir habe. Dann fingen wir an, über Annas Schiff zu streiten, und plötzlich habe ich gemerkt, dass ich ohne dieses Schiff verloren bin. Denn ich hätte gar nichts getan, gereist wäre ich nicht, gelesen hätte ich nicht, Menschen getroffen hätte ich nicht, die sich auf der Erde auskennen, ich hätte nur geträumt, einmal im Monat, still für mich, ich wäre eingetrocknet, jeden Monat etwas mehr, und eines Tages wäre ich alt gewesen, und alle hätten mir bestätigt, dass es ein gutes Leben war, und ich hätte es geglaubt, weil ich ja eingetrocknet bin. Dann kam das Schiff, jetzt bin ich frisch und überdreht. Ich trinke zu viel und weiß nicht recht, wie ich euch klarmachen soll, warum ich so aufgeregt bin. Das Schiff ist noch nicht fertig, aber ich stehe schon im Hafen und sitze auf den beiden Kisten, die ich auf die Reise mitnehmen werde, denn ich schaffe es nicht, alles in eine einzige Kiste zu stopfen.
Annas Schiff erinnert mich an alles, was ich vergessen hatte. Vielleicht ist es für sie nur ein Schiff, das Waren von einem Hafen zum anderen bringt. Mein Schiff fährt viel weiter, einmal um die Erde, und wenn ich Glück habe, tauche ich auf der anderen Seite tatsächlich wieder auf. Ganz traue ich dem Frieden noch nicht, aber ich bin neugierig, ich will es ausprobieren, ich freue mich auf die Erde, die hinter Lübeck liegt. Nicht weil ich etwas gegen Lübeck hätte, sondern weil ich noch so viel sehen will. Meine Eltern haben ihr Leben lang in Stralsund gelebt, und als sie endlich mit dem Boot nach Hiddensee fuhren, haben sie sich so sehr erkältet, dass sie nie mehr eine Reise unternahmen. Für sie waren ihre schmerzenden Lungen die gerechte Strafe für ihren Ungehorsam. Sie haben sich gefügt, ich will mich nicht fügen. Ich bin neugierig. Die Pastoren sagen uns, wir sollen das nicht sein. Die Tischherren reden und reden und sagen doch kein Wort. In den Klosterschulen bereiten uns Schwestern darauf vor, ein stilles Leben zu führen, und wenn wir sterben, hinterlassen wir keine Spur. Ich finde diese Vorstellung furchtbar. Jeder räudige Köter kratzt in seinem nichtsnutzigen Leben wenigstens ein paar Löcher. Jeder Floh ist so stark, dass wir uns kratzen müssen. Aber wir Frauen hinterlassen keine Spuren. Würden wir keine Kinder bekommen, könnte man jede von uns totschlagen, und nichts würde fehlen.
Dann kam Annas Schiff, ich bin so aufgeregt und werde jedem meine Nägel durchs Gesicht ziehen, der mir das Schiff wegnehmen will. Es gehört Anna nicht allein, es gehört mir genauso gut wie ihr. Und Trine, und unserer Prinzessin, die die Zukunft ist und die Welt sehen muss, weil sie sonst nicht weiß, was sie noch alles malen kann. Selbst unsere gute Sybille braucht die Häfen, die wir alle nicht kennen. Niemand ist jemals gereist und leerer zurückgekehrt. Aber viele sind nie aufgebrochen und immer leer geblieben. Nur weil man nicht weiß, wie leer man ist, lebt man längst nicht besser. Gottvertrauen und Demut machen klein und flach. Aber die Erde geht auch in die Höhe und Ferne. Und wenn dazwischen Wasser ist, brauchen wir ein Schiff, das uns trägt. Manchmal denke ich, was wir brauchen, ist eine Besatzung, die nur aus Frauen besteht. Für unser Schiff der Frauen, und wenn wir 600 gefunden haben oder 700, machen wir die Leinen los und fahren dorthin, wo der Wind uns hinführt.
Gib mir noch ein Bier, Sybille am Fass. Eigentlich wollte ich das alles gar nicht sagen, denn ich hatte Angst, Ihr könntet Euch langweilen. Aber es sind genau die Worte, die mich anfüllen.
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