Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Jetzt müsst Ihr Euch das alles anhören und dürft gerne über mich lachen, weil ich die verrückte Frau vom Brauer bin. Aber es ist das Schiff, das Schiff hat mich dazu gebracht.«
49
Gregor Theuerkauff legte die Hände auf den Papierstapel und drückte sich von der sitzenden in die stehende Position. Der Schreiber, der vor ihm stand, wurde zum vierten oder fünften Mal Zeuge der Übung. Doch war das für ihn kein Grund, um dem Folgenden gelassen entgegenzusehen. Er wusste, was passieren würde und sah keine Möglichkeit, dem schmerzhaften Erlebnis auszuweichen.
Theuerkauff eröffnete die Kampfhandlungen mit den Worten: »Wie lange kennen wir uns schon? Zwei Jahre? Sind es noch mehr? Wart Ihr schon auf der Welt, als wir uns kennenlernten ?«
Der Schreiber spürte den Tropfen, der sich vom Nacken den Weg entlang der Wirbelsäule suchte.
»Gut«, fuhr Theuerkauff fort, »dann wollt Ihr die Güte haben, mir zu erklären, was das hier ist. Nein, ich meine nicht meinen Finger mit dem sauberen Nagel, ich meine das darunter. Ich halte es für einen Fliegenschiss. Für was haltet Ihr das?«
»Das ist eine 2.«
»Eine 2, schau einer an, eine 2. Wollt Ihr mir erklären, worin der Unterschied zwischen einem Fliegenschiss und Eurer 2 besteht?«
»Meine 2 sieht aus wie eine 9. Aber nur auf den ersten Blick.«
»Richtig. Weil sie auf den zweiten Blick aussieht wie ein Fliegenschiss. Geschissen von einer Fliege, die sich gedacht hat: Scheißt du heute zur Abwechslung keinen Haufen, sondern eine 9.«
Der Schreiber sagte: »Eine 2.«
Die linke Hand Theuerkauffs verwandelte das Blatt in eine Papierkugel.
»In unserem Haus bestehen Regeln für das Aussehen von Zahlen«, knurrte Theuerkauff . »In einer Bäckerstube würde ich das für übertrieben halten. Bei uns sieht die Lage anders aus. Denn …«
Auffordernd winkte er dem Schreiber zu. »… denn wir sind eine Versammlung von Advokaten, die mit der halben Welt in Kontakt steht«, sagte der Schreiber auf. »Wir korrespondieren in sieben Sprachen, wir können uns nicht erlauben, undeutliche Zahlen zu schreiben.«
Theuerkauff klatschte Beifall. »Es geht doch«, sagte er, »sollte an Euch ein Dichter verloren gegangen sein?«
»Nein, Herr. Ich bin ein Schreiber, der sich zurückziehen möchte, um eine Stunde die 2 zu üben, bis die Knochen krachen.«
Theuerkauff liebte es, wenn andere Menschen seine Worte wiederholten. Da der Schreiber auch die Strafe für liederliche Zahlen kannte, entließ ihn Theuerkauff mit einer Geste, mit der man Straßenköter aus dem Weg wedelt.
Dieser Schreiber war einer der besten, die der Advokat Theuerkauff jemals beschäftigt hatte. Dreisprachig, kenntnisreich im Archiv, vertraut mit allen Ansprechpartnern im Rathaus, wieselflink im schriftreifen Formulieren von Briefen, gab es außer seinen liederlichen Zahlen nichts an ihm auszusetzen. Theuerkauff war froh über diese Schwäche, er wollte nicht in einer Firma arbeiten, in der es außer ihm einen zweiten Menschen gab, der perfekt war.
Gregor Theuerkauff war für das städtische Rechtswesen das, was der Hering für das Meer war: die Lebensgrundlage. Er und seine Angestellten brachten alles in eine rechtlich einwandfreie Form, was der gefräßige Lindwurm Rathaus ausspuckte. Alle Bereiche des städtischen Lebens bedurften einer Instanz, die ihnen durch Schriftform Dauer und durch rechtlich unantastbare Behandlung Sicherheit verlieh. Theuerkauff war der Mann, der auf allen Feldern fehlerfrei spielte. Römisches Recht, Landesordnungen, Abgaben, Abtretungen, Geschäftsbedingungen, Bußen, die diversen Codexe, Darlehen, Güterrecht, Scheidungen, Erbrecht und jede juristische Spitzfindigkeit, die im Geschäft zwischen Kaufleuten von Belang sein konnte – Theuerkauff kannte das meiste, und was er nicht kannte, wusste er sich an Kenntnis zu beschaffen, ohne als unwissend dazustehen.
In einer Hafenstadt kam man nicht mit dem Recht des jeweiligen Landes aus. Wiederholte Aufenthalte in Dänemark, Schweden und Russland hatten Theuerkauff zu einem Fachmann für rechtliche Fälle des Baltischen Meeres reifen lassen. Dass er unbestechlich war, bedurfte keiner Erwähnung. Dass er vier Sprachen sprach und für die kleinen Idiome über Fachleute in Griffweite verfügte, hatte seinen Ruf die Grenzen Lübecks weit überschreiten lassen. Zu Theuerkauff kamen russische Pelzhändler genauso wie Großgrundbesitzer von Gotland , die mit ihren Bauern im Streit lagen. Theuerkauff hatte das Ohr der Kirche und
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