Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
mit, um ihn nicht zu verlieren, sondern weil ihr diese Art zu leben zusagte. Sie war so nahe an ihm und seinen Geschäften, dass sie einiges von den Geschäften mitbekam. Auch das sagte ihr zu. Der Bau von Schiffen war eine großartige Profession. Visionen haben, Pläne zeichnen, Aufträge erteilen, 500 Einzelheiten beachten, in die die Bauarbeiten zerfielen. Dann musste man den Bau im Auge behalten und mit den Männern reden, musste neben ihnen stehen, ohne dass sie fürchteten, die Frau des Chefs wolle ihnen auf den Füßen stehen.
»Ich bin auf einiges stolz in meinem Leben. Aber besonders stolz bin ich darauf, dass sie mich anerkannt haben. Natürlich haben die Kerle nicht die Zähne auseinander gekriegt. Aber sie haben mich von der Seite angeguckt, und der Blick sagte: Donnerwetter, der Drachen weiß, wovon er redet. Bestimmt gibt es poetischere Komplimente, aber dieses Kompliment hat mich stolz gemacht.«
Aber selbst in diesen Zeiten war sie nur die Frau des Reeders. Wäre sie heute im Meer ersoffen, wären morgen die Schiffe weiter gebaut worden. Sie war wichtig, aber sie war nicht nötig.
Bis zu dem Tag, an dem Rosländer tot auf dem Eis gelegen hatte. An dem Tag begann die Uhr zu ticken, langsam und bedächtig wie die riesigen Uhren in den Lübecker Kirchtürmen.
Aber Anna Rosländer wusste nicht, wohin und zu welchem Ziel die Uhren tickten. Lief die Zeit ab? Lief sie auf ein Ende zu? Oder wollten die Uhren sie lehren, dass sich die Zeit nicht darum kümmert, wer am Ruder steht? Sie vergeht so oder so, und die Menschen müssen sehen, wie sie sich sortieren. Wer zögert und im Weg steht, soll zur Seite treten. Morgen ist er vergessen. Nur wer sich etwas zutraut, wer ein Ziel ins Auge fasst, dessen Platz ist in der ersten Reihe. Der hebt den Arm und ruft: Ich mache es! Alles hört auf mein Kommando!
Der Nachmittag wollte in den Abend hinübergleiten , da saßen die Frauen immer noch in der Studier- und Lesestube von Hedwig Wittmer . Zwei Stunden hatte Anna Rosländer ihre Gedanken sortiert, erst jetzt kam sie zu dem Punkt, der ihr am meisten Verdruss bereitete.
»Das wäre alles nicht passiert und hätte nicht so lange gedauert, wenn ich ein Mann wäre. Ein dummer August ist schneller entschlossen als die kluge Anna. Ihr habt es gut, Trine, auf Euch haben die Lübecker vielleicht nicht gewartet, aber als Ihr wusstet, dass Ihr eine Hebamme werden musstet, um zufrieden zu werden, da musstet ihr nicht erst die Männerwelt aus dem Weg räumen. Für Euch war der Weg sozusagen frei.«
Aber Anna Rosländer war nur die Witwe. Eine Witwe mit Geld und einem Unternehmen, mit Ansehen und Respekt und dem Willen, scheeläugige Hänflinge wie den Ratsherrn Gleiwitz oder den unglaublich freundlichen und daher unglaubwürdig freundlichen Reeder Schnabel aus dem Paletot zu hauen, wenn sie ihr dumm kommen würden.
Sie hatte die Möglichkeit dazu und sogar die Macht – aber der Gedanke, es tatsächlich zu tun, verwandelte sie in ein kleines Mädchen zurück, das zur Seite trat, wenn die Jungen ihre grobianischen Spiele spielten, obwohl sie gerne mitgespielt hätte. Die Kraft hätte sie gehabt. Sie riss sich nicht los, wenn ein Kindermädchen oder die Mutter sie zur Seite zogen und in den Raum führten, wo die anderen Mädchen mit Puppen spielten, wo sie sich mit Stricken und Häkeln abmühten und alles unterließen, was ein Junge tat: Schreien, Laufen, Toben, Ringen, Raufen, auf Bäume klettern, von Bäumen fallen, die Nase putzen und erneut auf den Baum klettern.
»Ihr seid nicht gern eine Frau?«
Für solche Bemerkungen besaß Sybille Pieper das Monopol. Man musste diese Bemerkungen ertragen können, sonst hätte man Sybille nicht ertragen.
Anna sagte: »Ich bin eine Frau und bin es gern. Aber zurzeit habe ich Ärger mit meinem Frausein.«
»Wärt Ihr ein Mann, wäre die Entscheidung längst gefallen. Zugunsten Eurer Wünsche und Ziele.«
Ludowica sprach selten, aber dann treffend. Und meistens, während sie kaute.
»Das ist meine Befürchtung«, entgegnete Anna. »Es gibt sachliche Gründe, um sich die Entscheidung schwer zu machen. Einige habe ich genannt. Aber es gibt auch grundsätzliche, quasi natürliche. Ich meine, was ist grundsätzlicher, als Frau oder Mann zu sein?«
Einige in der Runde fürchteten sich vor der nächsten Bemerkung von Sybille, die jedoch unterblieb.
Hedwig sagte: »Ihr wärt nicht die erste Witwe, die das Geschäft ihres Mannes weiterführt.«
»Das weiß ich. Aber ich kenne nur die
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