Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
zweite Geschoss empor. Hier war Trine noch nie gewesen. Unten lagen die Gesellschaftsräume, darüber erstreckten sich die Schlafzimmer und Gästezimmer. Im zweiten Geschoss, fast schon auf dem Dachboden, schliefen die Bediensteten.
Und hier arbeitete Hedwig Wittmer . Der Raum war nicht groß, aber Trine fühlte sich sofort wohl. Alle Möbel waren wohnlich und weiblich. Aber nichts sah aus wie Puppenstube. Dagegen sprachen schon die vielen Bücher, die zwei Wände bedeckten. Karten hingen an den Wänden, von Lübeck und Mecklenburg und allen Ländern rund ums Baltische Meer. Zum Schreiben setzte sich die Frau des Brauers an den Sekretär. Er sah aus, als hätten hier Kinder das Schreiben geübt. Tintenflecke waren ins Holz eingezogen.
Trine war der erste Gast, das fand sie mehr ungewöhnlich als unangenehm. In ihrem Beruf trat sie erst auf, wenn man sie ausdrücklich rief. Erschien sie dann am Bett der Schwangeren, fand sie die in der Regel von mehreren Frauen eingerahmt. Wie ein Kranz kam es Trine vor, ein schützender Kranz. Draußen lag die Welt der Männer und Geschäfte, der Zweckmäßigkeit und Arbeit. Im Inneren des Kranzes lag ein kleiner Mensch, man musste ihn nur noch überreden, sich nicht länger verborgen zu halten.
Innerhalb weniger Minuten tauchten sie dann auf: die Prinzessin – wild, schnell und wie stets von einem Schwall frischer Luft umgeben; Sybille Pieper, die Kräuterhexe aus dem Dorf vor den Toren der Stadt. Ihr Markenzeichen war nicht frische Luft, sondern die Mischung aus Kräutern und einer Hütte, die selten gelüftet wurde; die dritte Frau erkannte Trine erst auf den zweiten Blick. Selten hatte sie Ludowica Schelling in einem Kleid, der typischen Kleidung der Lübecker Frauen, gesehen. Ein Kleid war nicht typisch für eine Abenteurerin, die den Schwerpunkt ihrer Lebensführung auf die Planken eines Schiffs verlegt hatte. Die Piratin war seit zwei Tagen Hedwigs Gast.
»Wir sind fast vollständig«, sagte die Gastgeberin.
»Warum hier?«, fragte Trine.
»Würden wir uns bei Anna treffen, könnten wir uns genauso gut vor dem Rathaus treffen. Sie belagern nicht mehr nur die Werft. Was erwarten sie bloß von der Frau? Dass die Haustür aufgeht und das Schiff ist fertig?«
Trine fragte sich, warum Ludowica nicht auf der anderen Straßenseite Quartier genommen hatte. Das Schelling-Haus stand leer, seitdem der Salzhändler mit seinen Kindern in den Osten gesegelt war. Natürlich wurde das Kontor genutzt, an sechs Tagen pro Woche sorgte Jütte , die treue Seele, dafür, dass die Geschäfte nicht unter der langen Abwesenheit des Salzhändlers litten. Aber die Wohnräume waren frei, Ludowica war Schellings Schwester, nach ihrer Rückkehr von zehnjähriger Kaperfahrt hatten sich die beiden wieder versöhnt.
»Ich könnte natürlich«, antwortete Ludowica auf eine diesbezügliche Frage. »Aber es ist leer dort. Wie tot. Wenn keine Kinder durchs Haus laufen, musst du viel tun, um anderweitig Leben hineinzustopfen. Das kann ich nicht. Ich kann nur Krach machen, das ist nicht das Gleiche.«
Und dann gestand sie verschämt: »Ich werde auf meine alten Tage bequem. Ich genieße es, mich bedienen zu lassen. Außerdem ist es angenehm, mit Hedwig über geistreiche Dinge zu plaudern. Auf dem Schiff ist es doch … nun ja, Ihr könnt es Euch vorstellen, bei so vielen Männern. Die Zahl der Themen ist beschränkt, auch wenn sie sich alle Mühe geben. Aber noch schlimmer als ein grober Mann ist ein Mann, der sich Mühe gibt. Wobei auch immer.«
Jeder reagierte nach seinem Geschmack: Hedwig still und vielsagend , Sybille keckernd und mit einer saftigen Anekdote über tölpelhaftes Mannsvolk.
Hedwig präsentierte exotische Gewürze, vor zwei Tagen aus dem Fernen Osten gekommen.
»Pfeffer ist also nicht das Äußerste«, murmelte die Prinzessin. »Ob die Menschen, die bei den Gewürzen leben, überhaupt wissen, wie gut sie es haben?«
Angeblich hatte Gunda Borkenhagen das Schiff schon sehnlichst erwartet. Die Gefährtin des Mannes, der Keramik von Weser und Leine nach Skandinavien exportierte, ließ sich jedes Mal eine Truhe voller Pflanzen und Schösslinge aus dem Urwald mitbringen, um nach kurzer Zeit festzustellen, dass viele Pflanzen zwar die lange Reise überstanden hatten, die Begegnung mit der rauen Lübecker Seeluft ihnen aber nicht behagte.
»Unsere Gunda wird einfach nicht klug«, klagte Hedwig. Jede in der Runde wusste, dass Gunda die eingetopften Pflanzen unermüdlich dem Sonnenschein und
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