Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
hatten nicht die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, die meisten lebten ohne den Willen, das zu vermeiden, was die Natur für sie vorgesehen hatte. Sie gerieten ja auch nicht in Aufregung, wenn es regnete oder schneite, sie hielten aus, wenn die Nachbarn husteten oder Blut spuckten. Wurden sie von einem Hund gebissen oder einer Ratte, bissen sie die Zähne zusammen und jammerten nicht. Die Familien waren groß, man wusste, dass es einen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit treffen würde. Bevor die Pestbeulen sichtbar wuchsen, hatte der Kranke jeden in der Familie angesteckt. Das war so, das war immer so gewesen, niemand hatte jemals einen Vorschlag entwickelt, wie man die Kette unterbrechen könnte. Wie auch? Selbst die Medici wussten wenig über den menschlichen Körper. Sie scheiterten ja schon an den großen Fragen: Warum leben wir? Wie pflanzen wir uns fort? Warum wachsen bei den Eidechsen abgeschlagene Körperteile nach, beim Menschen aber nicht?
Die Menschen waren es gewohnt, vieles zu ertragen. Sie kannten es nicht anders, und niemand verhieß ihnen, dass sich in der Zukunft etwas ändern würde. Für alle, die von besseren Zeiten und Bedingungen träumten, gab es das Paradies. Man erreichte es umso sicherer, je ergebener man sein Erdenleben lebte.
Deshalb hätten die wenigsten verstanden, warum sich die acht Medici stundenlang stritten. Am Ende stand noch einer gegen den Rest. Helmuth Polikoff , aus Hamburg kürzlich zugezogener Medicus , dessen Frau eine Woche später Drillinge zur Welt gebracht hatte, die alle lebten und die Mutter auch. Er pochte darauf, dass der Schwede die Pest hatte. Er wollte zur Werft zurückkehren und die Untersuchung wiederholen. Er wollte, obwohl noch keine Beulen zu sehen waren, in den Körper des Schweden hineinstechen , solange, bis die Nadel auf eine Beule treffen würde. »Wir müssen sie gleich bei ihrer Ankunft begrüßen«, sagte er eifrig. »Jede Krankheit muss ihre Grenzen aufgezeigt bekommen.«
» Polikoff , Ihr redet dummes Zeug«, entgegnete Ebel . »Lasst uns endlich den Menschen sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Aber das wissen wir nicht!«, rief laut, fast gellend der Medicus .
»Wir sollten ihn in die Kutsche setzen und nach Hamburg zurückschicken«, raunte man in der hinteren Reihe.
»Ich höre sehr gut!«, rief Polikoff . Er redete wirklich laut. Er redete das Falsche und das zu laut. Auf diese Weise würde er sich hier keine Freunde machen. In Lübeck mochte man keine Eiferer. Wenn einer schon von seiner Meinung nicht lassen mochte, hatte man es gern, wenn sich seine Meinung mit der der Mehrheit zur Deckung bringen ließ. Nur einer Handvoll gelehrter Quälgeister wie etwa dem Theologen Distelkamp sah man es nach, wenn sie Anstoß erregten. Mehr Widerspruch vertrug man in Lübeck nicht. Die Geschichte hatte gezeigt, dass es sehr gut ohne Widerspruch ging.
Zwischen den Medici wurde es laut. Hunger, Durst, Müdigkeit steigerten die Gereiztheit. Als ein Arzt vom Abort zurückkehrte, berichtete er, dass der Bürgermeister mit Holzteilen durch die Flure eilte, es würde so aussehen, als wolle er sich verstecken.
31
Plötzlich waren die acht nicht mehr allein.
»Es war so laut, da bin ich einfach eingetreten«, sagte Trine Deichmann entschuldigend.
»Einer Kollegin sehen wir das nach«, entgegnete Ebel zur Begrüßung.
Erstmals erlebte Polikoff die städtische Hebamme persönlich. Er hatte sie sich älter vorgestellt und größer. Herrischer insgesamt. Die Frau, die jetzt eingetreten war, wirkte ja, als könne es sich um eine liebenswürdige Person handeln. Polikoff wusste, dass er sich nicht hinreißen lassen durfte. Keine Verbrüderung mit Hebammen! Wenn Zusammenarbeit unabwendbar war, mussten sie sich auf ein sachlich-korrektes Nebeneinander beschränken. Damit war er schon in Hamburg gut gefahren. Damit fuhr er ja sogar in seiner Ehe gut.
Ebel benahm sich der Hebamme gegenüber, als wäre er ihr Vater. Oder – noch schlimmer – ihr Kollege.
»Die beiden können sich seit Langem leiden«, raunte man sich zu. »Sie wäre nichts ohne ihn geworden. Und ohne ihn wäre sie nicht mehr da, wo sie heute ist.«
Wo Polikoff herkam, hörte ein Medicus nicht auf den Rat von Kräuterweibern und Hexen. Wenn die Schwangeren schon nicht darauf verzichten wollten, sich in die Hände dieser fahrlässigen Weiber zu begeben, musste die Vernunft eben so lange in der Hand der männlichen Heiler liegen.
Ebel forderte die Hebamme
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