Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Bürgermeister und Rat und danach die Bevölkerung in Kenntnis gesetzt werden sollten. Dazu war der Marktplatz vorgesehen, er lag gleich neben dem Rathaus, und heute war Markttag.
Seit dem früheren Nachmittag versammelten sich die Menschen, um die Neuigkeit aus erster Hand zu erfahren. Die Spannung war mit den Händen zu greifen. Was fehlte, war ein Medicus , der aus einem Fenster mit zwei Sätzen für Klarheit sorgen würde.
Unruhig pilgerte Bürgermeister Goldinger durch die Gänge. Weil er so nervös war, begann er, mit dem Fingernagel einen Fleck vom Porträt eines Vorgängers abzupulen. Im Flur hingen die Porträts in langer Reihe. Der Farbplacken platzte ab, entsetzt starrte Goldinger auf die handtellergroße Wunde im Bild, der das Kinn zum Opfer gefallen war. Spontan versuchte er, das abgesprungene Stück an seinen angestammten Platz zu drücken und starrte auf das Nachbarstück, das sich nun auch gelöst hatte und bald abfiel.
Das Bild zeigte einen Bürgermeister des vorigen Jahrhunderts, ein Mann, von dem im Rathaus mit Hochachtung gesprochen wurde. Goldingers erster Gedanke war: Das werden sie mir nie verzeihen. Er wollte das Bild abnehmen, es hing fest. Mit beiden Händen ruckelte er am Rahmen und hielt zwei Seiten in der Hand. Das obere Stück hing noch am Haken, das Bild fiel zu Boden. Beim Versuch, es aufzuheben, geriet ein Fuß des Bürgermeisters auf die Ecke. Ein hässlicher Riss, der durch den leeren Flur unheilvoll verstärkt wurde. Goldinger geriet in Panik, raffte alles an sich und stürzte davon. Bei seiner kopflosen Flucht eilte er an dem Raum vorbei, in dem die Medici tagten.
»Es ist nicht die Pest«, sagte der frühere Stadtarzt Ebel . »Es ist ein Ausschlag, er riecht nicht gut, er sieht nicht gut aus, aber es ist nicht die Pest. Kein Gebrechen, das uns Grund zur Sorge gäbe.«
»Es ist diese neue Art, von der man in letzter Zeit viel hört«, wandte ein junger Kollege ein. Angeblich war zwischen dem Osmanischen Reich und Persien eine Form der Pest aufgetreten, die man weiter im Westen nicht kannte. Aber der Seemann war nicht im Osten gewesen, weiter als bis Kurland hatten ihn seine Wege nicht geführt. Es gab also keinen Hinweis darauf, wo der Mann Kontakt zur Pest aufgenommen haben könnte.
Die acht Medici hatten versäumt, sich darüber zu verständigen, wie sie zu einer Diagnose gelangen wollten, mit der sie an die Öffentlichkeit treten konnten. Die Mehrheit der Ärzte sollte sich einig sein, das wären fünf gewesen. Dennoch gingen sie davon aus, nur Einstimmigkeit werde ihre Diagnose seriös erscheinen lassen. Damit lagen sie weit neben den Bedürfnissen der Bevölkerung. Die hätte sich mit jeder Verlautbarung einverstanden erklärt, hinter der ärztliches Wissen aufschien. Je mehr Zeit sich die Medici nahmen, umso größer wurde die Nervosität auf dem Markt.
»Warum dauert das so lange? Das kann nichts Gutes bedeuten.«
»Wahrscheinlich packen sie schon ihre Taschen und lassen uns mit der Pest allein.«
»Wir verlassen Lübeck. Hier ist es nicht mehr sicher.«
In der Menge standen Belesene , die sich mit der Pest in Lübeck auskannten. Zahlen begannen, die Runde zu machen. 7.000 Namen im Totenbuch des Jahres 1351; fünf Jahre später der nächste Pestzug, dem vor allem Kinder und Jugendliche zum Opfer fielen; 41 Pestjahre zwischen 1400 und 1500; 30 Pestjahre zwischen 1500 und 1600. Es wollte kein Ende nehmen, so wie es keinen Anfang gegeben hatte. Die Pest war immer da gewesen wie die Sonne und die Wolken und die Jahreszeiten. Die Pest gehörte zum Leben, auch wenn sie den Tod brachte. Aber auch der Tod gehörte zum Leben, jeder Christ wusste das, wuchs in diesem Bewusstsein auf und lebte mit ihm bis zu seiner letzten Stunde.
Wer auf dem Land wohnte, in kleinen Dörfern, hinter den sieben Bergen, konnte hoffen, dass die Pest ihn nicht entdeckte und an ihm vorbeiziehen würde. Wer in einer Stadt lebte, wo die Menschen dicht zusammenwohnten und auf jedem freien Meter Vieh gehalten wurde, wer sein Trinkwasser durch Kot und Urin schleppte und zudem in einer Hafenstadt wohnte, wo fremde Schiffe festmachten und sich Menschen mit fremdem Aussehen und fremder Sprache mit den Einheimischen mischten – wer also in Lübeck lebte, dem musste bewusst sein, dass ein Schutz gegen die Pest nicht möglich war. Er wusste es oder er war ein Narr.
Deshalb war es keine Panik, die sich auf dem Markt ausbreitete, es waren Lebenserfahrung und Einsicht in die Notwendigkeit.
Viele Menschen
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