Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
existiert.
Trine blickte Joseph an, der einfühlsam berichtete, wie Familien den Vater, die Mutter und Kinder verloren hatten. Es gab einen Tonfall bei dem Mann, den sie nicht oft hörte. Nur wenn ihm etwas naheging , wurde seine Stimme so weich.
»Joseph Deichmann, du liebst diese Stinkstiefel immer noch!« Und als er nicht gleich reagierte: »Du warst da! Da warst du also! Du hast gar nicht mit einer anderen … du hast nicht herumpoussiert. Was hast du da gewollt? Was denkst du dir dabei, deine Kinder in Gefahr zu bringen?«
Sie verlor die Fassung, sie wusste das und konnte doch nicht damit aufhören. Erleichterung war im Spiel und gleichzeitig Ärger. Er bestätigte alles, was sie vermutete. In den letzten Wochen war er mehrmals in Uelzen gewesen, zwei Tage zu Pferd hin, zwei Tage zurück.
Einmal stach die Angst noch zu: »Du hast da doch nicht eine …?«
Er nahm sie in die Arme, das tat gut, viel mehr als viele Worte. Es war die alte Anhänglichkeit, erklärte er, er kannte noch so viele und von manchen die Kinder. Der Ort war so klein, die Pest hatte ihn zerstört. Die meisten waren noch am Leben, aber es war ein Leben ohne Sinn und Halt geworden. Eine so kleine Gruppe konnte es nicht verkraften, wenn jeder Dritte ausfiel. Das war das Harte an der Pest. Wenn das letzte Opfer in der Erde lag, war die Pest noch lange nicht vorbei. Dann begann das Leben nach der Pest. Dann mussten die Menschen mit dem zurande kommen, was die Seuche übrig gelassen hatte. Viele kamen nie mehr auf einen grünen Zweig. Ohne Ernährer, ohne Arbeit, ohne Abnehmer für die hergestellten Werkzeuge, Kleider und Nahrungsmittel. Ohne Sinn, wenn man die Kinder verloren hatte, ohne Halt, wenn man den Liebsten verloren hatte und über seinen Verlust nicht hinwegkam.
»In einem großen Ort findest du immer etwas, womit du dich ablenken kannst«, sagte Joseph. »Du gehst ins Gasthaus und trinkst, gehst ins Bordell und liebst, gehst zur Arbeit, denn es sind genug am Leben geblieben, die deine Kunden werden können. Aber es gibt Orte, die zerbrechen an der Pest. Es gibt nicht genug Überlebende, die die Lücken schließen können. Es gibt keine Arbeit mehr, keine Familien mehr, kein Geld und nichts, was Hoffnung macht. Denn fromm bist du nur, solange du glaubst, es kann wieder besser werden. Wenn alles nur noch grau in grau ist, sparst du dir den Weg zur Kirche, denn du merkst, warum der Pastor so oft zu dir kommt. Er hofft darauf, ein Essen zu erhalten. Das ist verständlich, aber Hoffnung ist das nicht.«
Sein Gesicht war ernst, die Zigarre lag auf dem Boden, und er schilderte, dass er auf einen Friedhof kam, als er zum ersten Mal nach langer Pause wieder seine alte Heimat besuchte.
»Du weißt, sie haben dort Kräuter, die wir bei uns lange suchen müssen.«
»Ich weiß, Joseph. Ich weiß auch, wofür diese Kräuter geeignet sind.«
»Das ist schön, meine Liebe. So komme ich nicht in Versuchung, dir einen Bären aufzubinden.«
»Ich weiß es zu schätzen, wenn du dich schlaflos im Bett wälzt, weil dich das schlechte Gewissen quält.«
Sie lächelten sich an und wussten beide, dass Joseph zum letzten Mal Schwierigkeiten mit dem Schlafen gehabt hatte, als bei der jüngsten, jetzt 14-jährigen, Tochter die Zähne durchgebrochen waren.
»Ich ging durch die Gassen und alles war still. Keine Kinder, die spielten. Keine Hühner, die kratzten. Nicht mal ein Hund, in Uelzen gab es immer viele Hunde. Dann trat ein Mann aus dem Haus, er sah mich an, als würde er überlegen, wo er seine Flinte aufbewahrt. Ich meine, ein Ort mit großer Gastfreundschaft war das nie. In den Wäldern lernst du keine Offenheit wie bei uns. Wenn du bei uns von den vielen Stinkstiefeln die Nase voll hast, musst du nur ans Meer gehen, da hast du deine Offenheit. Bei uns kannst du einer Möwe hinterhersehen und siehst sie eine Minute lang, bevor sie zu klein geworden ist. In Uelzen gibt es keine Weite, sondern immer nur den nächsten Wald. Die Menschen aus Uelzen haben alle ein Brett vor dem Kopf, und das Brett ist ein lebendiger Baum.«
Er hatte die alten Freunde besucht und die Frauen, die für ihn die Kräuter suchten, die ihn in Lübeck zu einem gefragten Mann machten, wenn auch hauptsächlich bei liederlichen Frauenzimmern und solchen, die viel tranken und viele Blicke warfen und hinterher nicht wussten, wer der Vater war.
Nach dem Besuch hatte Joseph Deichmann den kleinen Ort hinter sich gelassen. Als er in Lübeck ankam, hatte sein Entschluss fest
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