Die Äbtissin
sterblichen Überreste Don Philipps, des Gemahls unserer Königin Johanna«, sagte die Äbtissin, bevor María fragen konnte. »Wir haben den Katafalk dort aufgestellt, damit Ihre Hoheit ihn vom Fenster ihrer Gemächer aus sehen kann.«
Von Neugier getrieben, machte María Anstalten, sich dem Sarg zu nähern, doch die Äbtissin hielt sie am Ärmel zurück.
»Tretet nicht näher, Euer Gnaden. Die Königin könnte es sehen und außer sich geraten. Sie erträgt es nicht, dass sich eine Frau, und sei es eine Nonne, dem Sarg nähert.«
»Weshalb?«
»Die Ärmste leidet an einer furchtbaren Krankheit, welche nicht zuletzt durch die rasende Eifersucht verursacht wurde, unter der sie zu Lebzeiten ihres Mannes litt. Seit dein Tod des Prinzen vor vier Jahren wacht sie über seine sterblichen Überreste. Monatelang zog sie ziellos mit dem Leichnam über die Straßen Kastiliens und ließ nicht zu, dass sich eine Frau dem Sarg näherte, mochte sie jung sein oder alt, schön oder hässlich. Vor zwei Jahren konnte ihr Vater Don Ferdinand sie davon überzeugen, bei uns zu bleiben. Obwohl sie ihre Gemächer nie verlässt, bewacht sie ihren Gatten vom Fenster ihres Zimmers aus.«
»Was für eine furchtbare Geschichte! Und… kann man Ihrer Hoheit einen Besuch abstatten?«, fragte María erwartungsvoll.
»Man kann, mit der Erlaubnis Luis Ferrers, der um ihr Wohl bekümmert ist, doch ich rate Euer Gnaden davon ab. Die Herrin ist in einem wahrlich traurigen Zustand, wenn man es so nennen will, und kein angenehmer Anblick.«
»Ich habe ihre Mutter Doña Isabella gekannt – Gott möge sie in sein Reich aufnehmen – und möchte Doña Johanna nur einen Augenblick sehen, im Gedenken an die große Königin, die ich so sehr schätzte.«
María log, ohne den geringsten Skrupel zu empfinden. Weshalb sollte sie? Johanna war ein Mitglied ihrer Familie wie María die Jüngere, sie hatte die Gelegenheit, sie kennen zu lernen, und wollte sie nutzen. Sie musste einige Zeit warten, bis die Nonne mit der Erlaubnis zurückkehrte.
»Eigentlich darf niemand außer der Familie und der königlichen Ratgeber Ihre Hoheit besuchen«, teilte sie ihr mit, »doch Don Luis schätzt mich sehr und gestattet, dass Ihr für einen kurzen Moment zu ihr dürft.«
Die Äbtissin führte sie zu dem angrenzenden Palast; das Kloster war vormals ein Teil der beiden Paläste gewesen, die man als Doppelanlage errichtet hatte. Sie gingen mehrere Korridore entlang und dann eine Treppe hinauf. Auf jedem Treppenabsatz hielten zwei Soldaten Wache. An der letzten Tür klopfte die Äbtissin dreimal, und hinter dem Guckloch erschien das Gesicht einer Dienerin, die ihnen öffnete, als sie die Äbtissin erkannte. Sie kamen durch einige Säle, die der hohen Persönlichkeit, die sie beherbergten, würdig waren: erlesene Möbel, geschnitzte Truhen, lederne Sessel, Gemälde, blumengeschmückte Vasen, silberne Leuchter und dicke Teppiche, die das Geräusch der Schritte schluckten. Erneut stand María staunend vor so viel Luxus und Schönheit. So etwas sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben, und tief in ihrem Inneren regte sich ein wenig Groll.
In den Zimmerfluchten saßen Frauen, teils betagt, teils wenig anmutig, aber allesamt recht kräftig gebaut. Sie waren mit Sticken und Lesen beschäftigt und hoben neugierig die Köpfe, als sie die beiden Nonnen eintreten sahen. Dann wandten sie sich wieder ihren Arbeiten zu. Die Äbtissin ging zu dem letzten Raum und trat zur Seite. María blieb auf der Türschwelle stehen und betrachtete das arme Wesen, das dort auf dem Boden kauerte, den Daumen im Mund, den Blick ins Leere gerichtet. Johanna trug eine Tunika aus grünem Atlas, die früher einmal ein prächtiges Gewand gewesen sein musste. Nun war sie schmutzig und zerlumpt, große Fetzen hingen zerschlissen herunter, und von der Bordüre, die einmal Hals und Ärmel geschmückt hatte, waren nur noch Reste übrig. Das lange, wundervolle, kastanienbraune Haar, das sie in dem Stundenbuch kopiert und gemalt hatte, wirkte stumpf und zerzaust, von der Farbe schmutzigen Strohs. Es fiel bis auf den Boden und bedeckte das halbe Gesicht. Unter der Tunika lugten die nackten Füße hervor, die vor Dreck starrten. Ein Bettler hätte sauberere Füße gehabt.
Die arme Unglückliche! Eine arme Königin, Gefangene ihrer selbst! Arme Schwester, mit der sie nie würde sprechen können! María hatte das unbändige Verlangen, sie zu umarmen und ihr Unglück zu beweinen, aber stattdessen wandte sie sich um und
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