Die Äbtissin
Hauptmann stand neben ihr. »Ihr habt die ganze Nacht gewacht, und dieser Mann ist tot.«
Don Gonzalo und Antoñino bedeckten den Leichnam mit Reisig und Blättern, bevor sie ihren Weg fortsetzten. María sprach nicht viel und auch ihre Begleiter waren schweigsam. Sie standen noch unter dem Eindruck der Ereignisse des Vortages und der im Freien verbrachten Nacht. Die Ordensfrau dachte an de Laras sonderbaren Auftrag. Wahrscheinlich würde sie diesen Martín Núñez niemals finden. Sie betrachtete eine Weile den Ring, dann steckte sie ihn ganz unten in ihre Rocktasche und nahm sich fest vor, die traurige Angelegenheit zu vergessen.
Die Reisenden quälten sich einen steinigen, an vielen Stellen gefährlichen Pfad hinauf, der niemals zu enden schien. Endlich erreichten sie die Passhöhe und konnten unter sich die Stadt Orduña liegen sehen. Der ummauerte Ort lag inmitten eines weiten, von Bäumen und Feldern gesprenkelten Tals, das seinerseits von einer natürlichen Mauer aus Bergen umschlossen war, die in allen Grüntönen leuchteten. Das Tal wurde von einem Fluss durchzogen, den der Hauptmann Nervión nannte; durch die Sonnenstrahlen, die sich im Wasser spiegelten, wirkte er wie flüssiges Gold. María fühlte sich an die Beschreibung des Paradiesgartens erinnert: Es entspringt aber ein Strom in Eden, den Garten zu bewässern; von da aus teilt er sich in vier Arme: Der erste heißt Pison; das ist der, welcher das ganze Land Havila umfließt, wo das Gold ist. Und das Gold jenes Landes ist köstlich. Da findet man auch das Bedellionharz und den Edelstein Soham… Es nahm nicht wunder, dass sich mehrere Orden in dieser Gegend angesiedelt hatten. Während Orduña näher kam, der einzige Ort in der ganzen Grafschaft Biskaya, der den Stadttitel trug, betrachtete María staunend das Grün der Felder und die darin verstreuten Einsiedeleien und Weiler. Es war ein Bild des Friedens.
»Macht Euch keine falsche Vorstellung, Doña María«, erklärte Don Gonzalo. »Es ist nicht so friedlich, wie es den Anschein hat. Eine Stadtmauer hat immer ihren Grund. In Orduña haben seit Menschengedenken ungezählte Kämpfe stattgefunden. Bedenkt, dass die Stadt zwischen Kastilien und der Grafschaft Biskaya liegt und beide sich ihren Besitz seit Jahrhunderten streitig machen.«
Es war schwer vorstellbar, dass an einem so herrlichen Ort einmal Kriegsgeschrei erklungen war, dass Blut die sorgsam bestellten Felder, die sie nun durchquerten, benetzt hatte und grausame Fehden eine so fruchtbare Erde mit Toten übersät hatten.
Bevor sie bei einem Amtsbüttel in schwarzen Hosen, schwarzem Wams und einem sonderbaren Hut mit aufgebogener, vorne spitz zulaufender Krempe den Wegezoll bezahlten, um in die Stadt zu gelangen, fragten sie nach einem Nonnenkloster. Letztendlich brauchten sie nicht zu bezahlen, denn ein Bauer zeigte ihnen den Weg außen an der Stadtmauer entlang, der bis vor die Pforte des Klarissenklosters führte, das unmittelbar neben der Kapelle Nuestra Señora de Orduña lag, La Antigua genannt. Die Klarissen verfügten über ein Gästehaus für Reisende, teilte ihnen der Mann mit, dort würden sie gut aufgenommen.
Als die Schwester, die mit dem Empfang der Gäste betraut war, die Ordensgewänder der drei Frauen sah, zeigte sie sich besonders bemüht und lud sie ein, die Nacht in der Klausur zu verbringen. Die Äbtissin, eine alte Frau mit freundlicher Stimme und offenem Lächeln, zeigte ihnen die Klosteranlage und die Kapelle, die in früheren Zeiten eine Eremitage zu Ehren der Jungfrau gewesen war. Damals hatten sich einige fromme Frauen, die den Ordensregeln der heiligen Klara folgten, um die Unterhaltung des Heiligtums gekümmert, und Papst Bonifaz, der Achte seines Namens, hatte ihnen die Erlaubnis zur Gründung eines Klarissenklosters gegeben. Es sei ein kontemplativer Orden, teilte die Äbtissin ihnen mit, dessen Schwestern von der Mildtätigkeit der Stadt und einiger Gönner lebten, sowie dem, was das Gästehaus einbrachte. Sie zeigte ihnen auch eine Waage, auf der die Nonnen die Neugeborenen wogen. Die Eltern gaben dem Kloster so viele Kilo Weizen, wie das Kind wog.
»Und hier werden jedes Jahr viele Kinder geboren«, erklärte ihnen die Äbtissin mit einem heiteren Lächeln.
Nach dem Abendessen, das aus heißem Brei, Brot und einem Glas Apfelwein bestand, einem Getränk, das María und Joaquina noch nie zuvor gekostet hatten, führte man sie in eine Zelle mit einem halben Dutzend Betten, von denen bereits drei
Weitere Kostenlose Bücher