Die Ängstlichen - Roman
seinem erregten, völlig vernebelten Hirn nach Sätzen grub wie ein Mineraloge nach Erzen.)
»O ja, bitte!«, sagte Ben, denn die Vorstellung, dass Iris ihn pflegen und ihm mit ihren schmalen, feingliedrigen und geschickten Händen ein kühlendes Gel auf seine schmerzenden Rippen auftragen würde, erschien ihm überaus verlockend. (Die Gedanken an die Artikel verbannte er angesichts derartiger Aussichten denn auch sogleich in irgendeine abgelegene Region seines Bewusstseins. Die Schubladen in den Archiven seinesGehirns quollen förmlich über von Verdrängtem. Denn unliebsame zellulare Bearbeiter, die auf umgehende Erledigung der anhängigen Vorgänge drängten, wurden kurzerhand abgeschaltet. Diese suchten sich sogleich neue Betätigungsfelder im weiten Gebäude seines Gehirns. Schließlich hatten sie Besseres zu tun, als tatenlos darauf zu warten, dass ihr Benutzer zur Besinnung kam. Und so fanden sich darin in großer Zahl Hinweise auf unbezahlte Rechnungen, Mahnungen und Androhungen gerichtlicher Schritte gegen ihn sowie quälende Erinnerungen an falsche Versprechungen oder gebrochene Zusagen oder Verträge. Tagsüber war all das scheinbar inexistent und so unfassbar wie eine gestalt- und geruchlose Giftwolke. Doch wenn es Nacht wurde über Hanau und Ben in den Schlaf sank, kam all das tagsüber erfolgreich Verdrängte in seinen vielgestaltigen Alpträumen langsam zum Vorschein.)
Mit offenen Augen starrte er, auf dem Rücken liegend, an die Zimmerdecke und wartete darauf, dass Iris nach Hause kam. Und dabei bildeten sich, scherenschnittartig und zunächst unscharf, die Hanglichter von Stadtprozelten heraus. Jenes im engen Maintal gelegenen, an einen Bergrücken befestigten Städtchens zwischen Miltenberg und Wertheim, in dem die ersten vier, auf gerade mal einer Handvoll gelbstichiger Schwarzweißfotos gebannten Jahre seines Lebens abgelaufen waren, im Schatten der Geschichte der Jansens, still und unbemerkt. Doch die Erinnerungen an seine Zeit dort waren auch all die Jahre danach noch scharf umrissen, so dass er das mal irritierende, mal beglückende Gefühl hatte, bloß die Hand danach ausstrecken zu müssen, um sie berühren zu können: die Pritschen, auf denen sie den Mittagsschlaf im Sommer im Freien, zu Füßen zweier sich scheinbar endlos in den stahlblauen Himmel schraubenden schattenspendenden Kiefern abgehalten hatten. Den weiß und braun verputzten Bau dernahen Zentralküche, aus welcher der strenge unvergessliche Geruch von angebranntem Kartoffelbrei herüberweht und für immer in der Nase bleibt. Die olivgrünen Ami-Dosen, in denen sich zwei Butterkekse, ein weißer zuckersäckchengroßer Beutel Kakaopulver und eine Ration Nussbutter befinden (die sie sich, mit nackten Beinen auf den warmen Steinstufen sitzend, heißhungrig von den Fingern lecken), und die säuerlich riechende Scheiße, die ihm als matschiger Brei hellbraun schimmernd aus der viel zu kurzen speckigen Lederhose an den Beinen hinunterläuft. Und zuletzt (und am schönsten!) der senfgelb leuchtende Schwalbenschwanz, Papilio machaon (der erste Falter in seinem Leben, den er bewusst wahrnahm), der sich auf einer der dichten Vergissmeinnicht-Rabatten, die den in Form weinroter, terrassenförmig ansteigender Steinplatten angelegten Weg zur Säuglingsstation säumen, niedergelassen hat und im satt leuchtenden, schwach duftenden Lila der winzigen, hundertfach der Sonne dargebotenen Blütenkelche förmlich zu baden scheint. Der Papilio machaon wurde damals zum Wappentier seiner Sehnsucht und seines Glücks, das ihn all die seither vergangenen Zeiten hindurch begleitete wie ein Pfand seiner Erinnerung.
Ben schloss die Augen, weil er spürte, dass sie sich mit Tränen gefüllt hatten, blinzelte ein paarmal und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lider. Anschließend lag er lange reglos da, unfähig, sich zu bewegen, und starrte an die Decke. Irgendwann hörte er, wie sich in der Diele der Schlüssel im Schloss drehte, die Tür mit einem kurzen, trockenen Klacken aufging und Iris rief: »Hallo! Ich bin es!«
3. Entladungen
N ach einer unruhigen und viel zu kurzen Nacht, in der sie einige Male aus wirren Träumen hochgeschreckt war, nahm Johanna am nächsten Morgen den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer ihrer um neun Jahre jüngeren Schwester Erika. Erika lebte in Heusenstamm und verließ seit dem Tod ihres Mannes Gustav nur noch selten ihr Haus am Stadtrand.
Mit Erika, die vor sechs Jahren aus dem Schuldienst
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