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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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mit Heidmann, die ihm zusetzte. Das Ganze hatte er wie eine Serie schwerer Kopftreffer erlebt, deren Wirkung erst einige Zeit später einsetzte. Hatte er bereits unter Heidmanns Ankündigung geächzt, so bedeutete Janeks Tod zweifellos den finalen K. o. (Manchmal, wenn Ben in Fahrt kam und nach markigen Vergleichen suchte, die seinen täglichen Überlebenskampf möglichst eindringlich illustrierten, sprach er von sich selbst als einem einsamen, von Gott und der Welt verlassenen Faustkämpfer, der sich heroisch durch das Dickicht des Lebens schlug.)
    Wohin er sah, registrierte er Krankheit und Tod! In jeder Zeitung, die er aufschlug, fanden sich die entsprechenden Artikel, und wenn er sich in der Regel im Eiltempo durch die Fernsehprogramme schaltete, dann vor allem deshalb, um zu vermeiden, dass er länger, als ihm erträglich war, bei einem Feature oder irgendeinem Praxisbericht über Aids oder Krebs oder die Pest hängen blieb. Ruhelos befand sich Ben auf der Flucht vor den sich mehrenden Zeichen des Untergangs und des Todes. Doch wohin er auch floh: Die Angst davor war immer schon da. Ben wurde den unheimlichen Verdacht nicht los, dass neuerdings mehr gestorben wurde als früher, dass die Krankheiten heimtückischer, die damit verbundenen Qualen unmenschlicher und die Möglichkeiten, ihnen zu entkommen, geringer geworden waren. (Er kam sich in diesen Sekundenwie der weiße König auf einem Schachfeld vor, der, von seiner Dame im Stich gelassen, soeben von zwei schwarzen Springern, einem Turm und einem Läufer attackiert und humorlos matt gesetzt worden war.)
    Heidmann, daran bestand für Ben nicht der geringste Zweifel, war dem Tode geweiht. Doch die eigentliche Katastrophe war Janeks Tod. Mit seinem Verschwinden erschien Ben plötzlich das meiste nichtssagend und leer. (Der Schutzschild, der ihn so lange in Person des anderen unmerklich umgeben hatte, war verschwunden.) Es würde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis er sich von diesem Schlag erholt haben würde, sofern ihm dies überhaupt jemals gelang. Gleichzeitig nahm sein schlechtes Gewissen, wenn er an die zugesagten Artikel dachte, mit jeder Minute zu, die er länger tatenlos im Bett zubrachte und sich seinen Schmerzen hingab. Doch an Schreiben, das fühlte Ben, war in seiner momentanen Verfassung überhaupt nicht zu denken. Was blieb ihm zu tun? Sollte er einfach die Bettdecke über den Kopf ziehen und darauf hoffen, dass jemand anderes seinen Job machte? Oder sollte er sich trotz der Schmerzen aufraffen und hinter die Maschine klemmen?
    »Das Leben ist lebensgefährlich«, hatte er kürzlich irgendwo gelesen, und nach kurzem Nachdenken fiel ihm auch ein, wo: Irgendein anonymer Leidensgenosse hatte diese tiefsinnige Erkenntnis in riesigen, leuchtend roten und weithin sichtbaren Lettern an den Pfeiler einer Autobahnbrücke gesprayt. Als er diesen Satz sah, hatte Ben spontan gedacht: Das könnte von mir sein! Denn wenn er zurückdachte und sich seine Kindheit in Erinnerung rief, erblickte er einen jungfräulichen, weit gestreckten und hier und da baumbestandenen Landstrich in Braun- und zarten Grüntönen vor sich, wo irgendjemand eine Wagenladung toxikologisch relevanten Dioxinsabgeladen hatte. Langsam, aber unaufhaltsam hatte sich das Zeug in seinen Körper gefressen, in das Mark seiner Knochen, in das Gewebe seines Gehirns.
    Wie der Blitz in eine mächtige, scheinbar unverwüstliche Eiche hatte die Angst eines Tages, irgendwann kurz nach dem Abitur, in ihn eingeschlagen und war fortan sein ständiger Gefährte, ein stummer, allgegenwärtiger dunkler Zwilling gewesen, dem er sich ständig unterlegen fühlte. Wenn er jemandem ein Bild seiner aktuellen Empfindungen hätte malen sollen, so wären darauf zwei Füße zu sehen gewesen, die bis zu den Knöcheln im Matsch feststeckten.
    Johanna und vor allem Janek hatten ihm, nachdem sie ihn zu sich geholt hatten, anfangs das Gefühl gegeben, sich bei ihnen behütet und in Sicherheit fühlen zu können. Und Ben, der im Kinderheim anderes gewohnt gewesen war, hatte dieses Gefühl ausgiebig genossen. Bis Johanna irgendwann damit begonnen hatte, ihre Ängste – subtil und quasi hinterrücks – zu seinen Ängsten zu machen.
    »Soll ich dir gegen die Schmerzen etwas aus der Apotheke besorgen?«, sagte Iris. »Ich könnte es dir in der Mittagspause rasch rüberbringen.« (Manchmal liebten sie sich in ihrer Mittagspause kurz und stürmisch, bevor er an den Schreibtisch und sie in die Bank zurückkehrte und er in

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