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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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war, um den sich tagsüber die Junkies scharten.
    »Hier?«, erwiderte der junge Mann.
    »Ja! Und danke fürs Mitnehmen«, sagte Konrad. Er war fast am Ziel, mit dem Zug war er in nicht mal zwanzig Minuten am Hanauer Hauptbahnhof.
    »Okay, wie Sie meinen!«, sagte der Fahrer und zog den Wagen rechts auf den Bordstein.
    Umständlich wuchtete sich Konrad aus dem Wagen, hinaus in den Regen. In schweren Schüben trieb der Wind Güsse über den Bahnhofsvorplatz. Er schielte hinauf zu der großen, indirekt beleuchteten Uhr über dem Eingang, sie zeigte kurz vor halb drei. Der Uringeruch, der sonst hier herrschte, war vom Regen weggewaschen worden.
    Frederick Fricke, sein Großvater mütterlicherseits, der einst die Leitung der Gepäckabteilung des Frankfurter Hauptbahnhofs innegehabt hatte, hatte gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter Johanna im Nordflügel unterm Dach des seit 1924 aus fünf Hallen bestehenden Gebäudes gewohnt, ein kleiner, zumeist gebeugt gehender weißhaariger Mann mit ebenfalls weißem Schnurrbart, auffallenden buschigen Brauen und abstehenden Ohren, der mit zweiundsiebzig Jahren an den Folgen eines nicht operierten Leistenbruchs gestorben war.
    Konrad kannte seinen Großvater nur von Fotos, die den Eisenbahner an der Seite seiner Frau und seiner Tochter in der Uniform der Deutschen Reichsbahn zeigten. Schon dessen Vater war bei der Bahn gewesen.
    Konrad verspürte plötzlich heftigen Durst. Sein Gehirn (soohne jegliche chemische Dämpfungsstoffe sich selbst überlassen) betrieb die Produktion des Neurotransmitters Dopamin inzwischen wieder in einem solchen Ausmaß, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er, überflutet von einer Fülle einander heftig widersprechender Informationen, das Gefühl hatte, Schauplatz eines gigantischen chemischen Clashs zu sein, an dessen Scheitelpunkt Armaden körpereigener Dämpf- und Beschleunigerstoffe aufeinanderprallten wie zwei Tsunamis. An der Schwelle eines solchen Clashs wurden seine Bewegungen in der Regel langsam und schwer, sein Blick stechend und starr und das Sprechen wurde zu einem ständigen Balanceakt zwischen Flüstern und Schreien.
    Konrad, der registrierte, dass sich in seinem Innern etwas Gewaltiges zusammenbraute, lachte einmal kurz und schrill auf und strebte unter großen Schmerzen und mit zusammengebissenen Zähnen der schwach beleuchteten Eingangshalle zu.
    Da und dort lagen in ihren nass glänzenden Anoraks Gestalten vor den Eingängen der geschlossenen, unbeleuchteten Geschäfte und Boutiquen auf dem Boden, in verfilzte Wolldecken gehüllt oder bloß mit Zeitungen oder Pappkartons zugedeckt, und schliefen. Neben einer reglosen Frau in einer verdreckten Kunstlederjacke (die einmal hellblau gewesen sein musste), die s-förmig gekrümmt auf einem dunkelgrünen Fetzen Kunstrasen lag und sich bis zum Kinn eine Wollmütze übers Gesicht gezogen hatte, kauerte zitternd ein ausgemergelter Hund (irgendeine verlauste, halb verhungerte Promenadenmischung), an dessen struppiger schwarzgrauer Flanke sich deutlich sichtbar das Gerippe abzeichnete. Aus schwarzen, feucht glänzenden Augen sah ihn das Tier an.
    Unterhalb der gewölbten, von vereinzelten Halogenstrahlern erhellten Kuppeln, vielleicht zwanzig Meter oberhalb derGleise, trudelten Tauben von einem Stahlträger zum anderen, hin und her wehende Schemen, deren kurzes wiederkehrendes Flügelschlagen ein trockenes Flappen erzeugte, als klatschte ein nasser Lappen auf einen Stein.
    Konrad humpelte zu den Fahrplänen, studierte die Abfahrtszeiten, zog seine Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. Dann schleppte er sich mit letzter Kraft über steil abfallende stillstehende Rolltreppen hinab in die gewundenen Katakomben des S-Bahn-Systems, vorbei an umgekippten oder aus ihrer Verankerung gerissenen Abfallkübeln, die ihren stinkenden Inhalt auf den hell gekachelten Boden erbrochen hatten.
    Inzwischen war der Schmerz in seinem Bein so stark, dass ihm die Tränen kamen. Bis zur Abfahrt des allerersten Zuges nach Hanau um 4.37 Uhr waren es noch gut zwei Stunden. Hanau war zum Greifen nah.
     
    N achdem Iris zur Arbeit gefahren war, hatte Ben sich wenig später wieder ins Bett gelegt und zunächst vergeblich versucht einzuschlafen. Er hatte sich ruhelos immer wieder von einer Seite auf die andere gedreht. Dann war er aber doch in einen kurzen quälenden Schlaf gefallen und hatte im Traum aufgeschrien und um sich geschlagen, als das feine Blatt einer Chirurgensäge sich ihm surrend und mit

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