Die äußerst seltsame Familie Battersby (German Edition)
tief geschlafen, und es dauerte einen Moment, bis er das Licht angeschaltet und begriffen hatte, dass sich tatsächlich die berühmt-berüchtigte Herzogin in seinem Zimmer befand.
Was er sah, war zunächst eine erdbeerrote, mit Samtbändern zurückgehaltene Lockenmähne, die sich über einem schmalen Gesicht auftürmte, dann ein tief ausgeschnittenes, schwarzes Abendkleid und schließlich Lippen so feucht und purpurrot wie eine frisch geschnittene Pampelmuse. Alle Details zusammengenommen, konnte das nur seine Tante Chessie sein.
»Mit dir hatte ich hier aber nicht gerechnet«, flötete sie und schob sich eine Zigarette zwischen die vollen, geschwungenen Lippen.
Ralph richtete sich auf, zog sich schnell das Laken über die nackte Brust und starrte auf Chessies Mund.
»Allerdings glaube ich nicht«, fuhr sie fort, »dass der Fehler bei mir liegt. Ich glaube – sag mir, wenn ich falschliege! –, dass dich nicht einmal deine Eltern hier vermuten.«
»Was machst du in meinem Zimmer?«
»Aha, du hast also offenbar begriffen, wer ich bin. Sonst wäre das ja wohl nicht deine erste Frage, oder?« Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und musterte sie nachdenklich.
Ralph nickte. Vor ein paar Tagen hatte er seine Tante noch auf einem Werbeflyer mit breitem Grinsen einen Protein-Drink schlürfen sehen.
»Ich nehme an, die Kinder haben dir alles über mich erzählt. Dann sei du nun bitte so lieb und erkläre mir, wie es kommt, dass du am Leben bist!«
Stotternd beteuerte Ralph, er könne nach bestem Wissen und Gewissen sagen, dass er noch nie gestorben sei, folglich also seit seiner Geburt immer schon am Leben gewesen sei und dies auch im Moment gelte.
Chessie zog kräftig an ihrer Zigarette und bot sie Ralph an. Er lehnte ab. »Diese hinterlistigen Stevens!«, schimpfte sie. »Vor ein paar Jahren haben sie mir eine Weihnachtskarte geschickt, in der stand, du seist mausetot.«
»Ich nehme an, meine Eltern hatten ihre Gründe«, erwiderte Ralph leise.
»Wünsche, Wünsche, Wünsche!«, rief Chessie, sprang plötzlich auf und ging im Zimmer hin und her. »Was für ein Theater bloß wegen ein paar Wünschen! «
»Was denn für Wünsche?«, fragte Ralph, während er sich rasch ein in Reichweite liegendes T-Shirt überzog.
Chessie presste die Hände an ihre Wangen und zog die Haut straff. »Was siehst du, wenn du mich anschaust?«, fragte sie.
»Chessie von Cheshire. Du bist berühmt.«
»Aber aus den falschen Gründen. Weißt du, wie das ist, Ralph, wenn man zwar Anerkennung bekommt, aber nicht für das, was man eigentlich will?«
Ralph nickte. Er stand im Ruf, ein echter Freak zu sein, ein Gamer-Nerd der reinsten Sorte. Er wäre aber lieber charmant und witzig gewesen. Gerade wollte er das seiner Tante gestehen, da sprach sie weiter, als hätte sie nicht bemerkt, dass er etwas hatte sagen wollen.
»Ich will keine unternehmenseigene Marktschreierin sein«, fuhr Chessie fort. »Ich wollte nie eine langweilige Würdenträgerin sein – eine Option, die ich im Übrigen aus verschiedenen Gründen tatsächlich gar nicht hatte, niemals! Mir ist kein anderer Weg eingefallen, um ein Leben zu führen, das … wie soll ich sagen … etwas bedeutet. Das ist das Einzige, was ich will: ein Leben führen, das etwas bedeutet. Das verstehst du doch, oder?«
Wieder nickte Ralph, aber diesmal ließ er es dabei bewenden.
»Hör zu, ich bin Patentante von drei unreifen Kindern. Was hätte das vor mehreren Jahrhunderten bedeutet?«
»Tut mir leid, weiß ich nicht.«
»Ich wäre ihre gute Fee gewesen! Ich hätte Wünsche gewährt!«
Kurioserweise hatte Ralph genau diese Antwort auf der Zunge gelegen, aber er dachte, dass sie vielleicht lächerlich klingen würde.
»Komm«, sagte Chessie, und Ralph starrte auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. »Wer sagt, dass ich nicht doch ein bisschen zaubern kann? Wer sagt, dass man als Herzogin nicht cool sein kann? Schau dir meine Schwester an – Gertie: Verkörpert sie nicht genau das, was man von einer Aristokratin erwartet? Langweilige Verpflichtungen, Kaltherzigkeit? Ich bin anders. Ich will nicht elegant und zurückhaltend sein. Ich will wirken . Ich will, dass die Leute wenigstens ein bisschen Angst vor mir haben, wenn sie mir begegnen, weißt du, ich könnte ja einen vergifteten Apfel in meiner Handtasche versteckt haben … Du hast keine Angst vor mir, Herzchen, oder?«
Ralph schüttelte den Kopf.
»Gertie und Mary fänden das, was ich gerade gesagt habe,
Weitere Kostenlose Bücher