Die äußerst seltsame Familie Battersby (German Edition)
die Schneeköniginnenflut dem PMI-F1 zugewiesen worden war. In der Hoffnung, Ralph oder Cecil zu finden, war Fingerfertig lange durch die Stadt der Eben-noch-Lebenden gestreift. Seit sie die Krallen gespürt hatte und damit rechnete, in nächster Zeit zu den Bald-Toten zu kommen, suchte sie noch verzweifelter. Inzwischen tat sie kein Auge mehr zu, wusste sie doch, dass sie bald jede Menge Zeit zum Schlafen haben würde …
Sicher kannst du dir vorstellen, wie begeistert sie war, als sie Ralph tatsächlich fand. Zugegeben – die Tatsache, dass er da gerade wie verrückt herumbrüllte, dämpfte ihre Freude ein bisschen, aber nur ein bisschen. Sie landete auf seiner Schulter und schlang ihm ihre gänseblümchenweißen Elfenarme um den Hals.
»Ralph«, piepste sie überglücklich, »dass du auch tot bist!«
So unverblümt an seine missliche Lage erinnert zu werden, hob zwar nicht gerade Ralphs Stimmung, aber man sollte Fingerfertigs Charme nicht unterschätzen.
Als er sie wieder losgelassen hatte, plauderten sie entspannt miteinander, soweit das im Fegefeuer überhaupt möglich ist. »Hast du … die Krallen … auch schon gespürt?«, fragte sie ihn schließlich. Dabei kaute sie nervös an einer Flügelspitze.
»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte er.
Fingerfertig schnappte so heftig nach Luft, dass sie fast vornüber gekippt wäre. »Oh! Natürlich nicht – du bist ja in Farbe !«
Ralph sah an seiner Kleidung herab. »Ja, sieht ganz so aus. Hast du vielleicht eine Ahnung, warum?«
Ratlos schüttelte Fingerfertig den Kopf.
Da gab sich Ralph einen Ruck und berichtete ihr von seiner abenteuerlichen Suche nach Beatrice, seinem Tod im Maul eines Wals, seiner Ankunft im PMI-F1 und wie er dann die Stimme des Erzählers gehört hatte.
Fingerfertig zeigte sich wenig beeindruckt davon, dass ein Erzähler einer von ihm selbst ausgedachten Figur seine Geschichte erzählt – eine banale Sache für Elfen. Faszinierend fand sie dagegen die Praktiken der Fegefeuer-Diplomatie: »Dann schicken die also alle paar Jahre einen Abgesandten los?«
»Ja, richtig, alle drei Jahre. Sofern man diesem dämlichen Erzähler glauben kann.«
Genau da stürzte ein Baum auf die Stadtmauer und hätte Ralph, der erschrocken aufgesprungen war, beinahe erschlagen. Die furchteinflößende Macht des Erzählers hätte jede normale Figur in einer Geschichte vor Angst zittern lassen. Aber weil Ralph eben kein normaler Junge war, sondern ein missmutiger, pubertierender Nerd, war er beleidigt.
»Nun ja«, meinte Fingerfertig, als sie wieder zu ihm geflattert war (der umstürzende Baum hatte sie einige Meter weit fortgeschleudert). »Ich vermute, aber das ist wirklich nur eine Vermutung, dass die drei Jahre heute Abend um sind.«
»Warum glaubst du das?«
»Weil’s halt so läuft, wenn man eine Elfe ist. Bleib einfach bei mir!«
»Weißt du denn, wo dieser verrottete Tisch steht?«, fragte Ralph.
»Ja«, antwortete Fingerfertig. Dabei schien ihr ein Schauer über den Rücken zu laufen.
Der Pfad zur Grenze führte durch mehr Gegenden, als ein Pfad eigentlich führen sollte: zuerst durch einen Wald, dann durch ein Felsengebirge, gleich darauf über den Kiesstrand eines Eislaufsees, dann über eine Kristallbrücke, die eine Schlucht überspannte, weiterhin über eine Seilbrücke im Baumkronendach eines Waldes und schließlich durch einen unterirdischen Tunnel. All dies geschah im Rahmen einer einstündigen Wanderung. Es war so, als hätte jemand versucht, die ganze Welt auf den schneekugelgroßen Maßstab des Fegefeuers Nummer eins zu übertragen. Stumm vor Staunen hielt Ralph Fingerfertigs Hand, während sie den Pfad entlangschritten.
Die Skala der Grautöne änderte sich. Dunkle und helle Töne wechselten sich kontinuierlich ab, von Tweed über Tintenfischschwarz und Metallgrau bis hin zu einer Reihe von matteren Tönen. Als Elf und Mensch den Rand der Lichtung erreichten, gab es nur noch reines Schwarz und reines Weiß, ohne Schattierungen, eine Landschaft wie ein Scherenschnitt.
Auf der kleinen Lichtung gab es keinerlei Pflanzenbewuchs, nur Kreidesteine. An einem wuchtigen, derben Tisch saß der Emissär der Eben-noch-Lebenden und blätterte in den zerfledderten Seiten eines in Leder gebundenen Buches. Er schien irgendwann im neunzehnten Jahrhundert gestorben zu sein. Er trug einen hohen, ausgefransten Reisehut aus Samt. Sein langer Mantel war nach hundertjähriger Benutzung ein wenig aus der Form geraten.
»Ob wir uns vorstellen
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