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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Ich stelle meinen Blick weit. Für die Affen, das weiß ich, ist auch der Himmel vergittert.
    Wir gehen auf einem halbwegs schneefreien Trampelpfad im Kreis. Ein paar Schneeflocken fallen. Die Wächterinnen stehen unter einem Vordach. Wir sind schätzungsweise dreißig Frauen. Viele sehr jung. Die meisten stehen beisammen wie zum Spielen vor die Tür geschickte Kinder und rauchen missmutig. Sie belauern mich. Zumindest kommt es mir so vor. Ich rechne mit bösen Worten, mit einem Schlag von hinten.
    Nach einer Stunde bin ich froh, in die warme Zelle zurückzudürfen. Einschluss. Und jetzt? Der Anstaltsradiolautsprecher hat nur drei Programme, einen Popsender, einen Folkloresender und einen Infosender. Ich setze mich auf den Stuhl an den Tisch und gucke an die Wand. Sie ist fleckig.
    Was kann ich tun? Irgendwas muss man tun. Ich brauche was zum Schreiben, einen Laptop. Der Gedanke belebt mich. Sobald jemand kommt, werde ich um einen Laptop bitten. Ich bezahle ihn ja auch. Ich bezahle alles. Und wenn sie es ablehnen, werde ich zetern und schreien. Außerdem brauche ich eine Uhr. Und das Licht möchte ich ausmachen können. Ein Radio möchte ich, auf dem ich ein Kulturprogramm einstellen kann, einen Fernseher, Zeitungen, Bücher. Und ich möchte Onkel Gerald anrufen. Sie können mich doch hier nicht einfach einschließen und warten lassen.
    Ich lege mich wieder aufs Bett. Vermutlich schlafe ich. Plötzlich höre ich den Schlüssel. Die Schließerin tritt ein. Frühstück? Nein, Mittagessen. Sie müssen sich schon herausbequemen, Frau Feh. Der Hofgang hat mich mutiger gemacht. Ich nehme mein Tablett und trete vor die Tür. Da steht ein Rollwagen mit Essenskesseln. Eine Frau in Zivil, eine Gefangene, schöpft Kartoffelbrei auf meinen Teller und legt ein Schnitzel obendrauf. Ich sage Danke und trete wieder zurück.
    Heißes Wasser hätte ich mit der Kanne holen können. Ich habe Teebeutel bekommen, Schwarztee ist keiner darunter, und das mit dem Wasser habe ich am ersten Tag nicht kapiert. Klopapier habe ich immer noch nicht.
    Ich esse am Tisch. Der Kartoffelbrei ist glasig, das Schnitzel hart. Das Messer schneidet nicht. Dennoch esse ich gierig. Den Teller spüle ich am Waschbecken. Ich brauche Spülmittel.
    Ich bemerke, dass die Tür offen geblieben ist. Draußen Gelächter. Ich will gerade aufstehen, um hinauszuschauen, da kommt die Schließerin. Wir stehen uns plötzlich gegenüber, sie fährt zurück. Sie haben Angst, entdecke ich. Angst ist gefährlich.
    Ich sage: Ich brauche Klopapier. Und ich frage: Wo bekomme ich eine Uhr her? Wann kann ich meine Wäsche waschen? Ich brauche einen Computer. Wie geht das hier?
    Ich muss Anträge stellen, schriftlich. Das wird mir die Abteilungsbeamtin erklären. Aber erst am Montag. Ich bekomme immerhin eine Rolle Klopapier. Und wieder bin ich eingeschlossen.
    Ich gehe auf und ab. Gefängnisschritt, am anderen Ende des Weges immer in Gegenrichtung wenden, wie wenn man eine Acht malt. Damit man keinen Drehwurm kriegt. Sieben Schritte zwischen Stuhl und Bett hindurch zum Fenster, Rechtsdrehung, sieben Schritte zurück zwischen Bett und Stuhl, Schrank und Waschbecken zur Tür, Linksdrehung. Ich konzentriere mich aufs Gehen, mein Atem geht schneller, als ob ich liefe. Ich werde mir ein Fitnessprogramm zusammenstellen: Liegestütze, Bauchaufzüge, Kniebeugen, jeden Tag neunzig Minuten. Der Plan deckelt für einige Zeit die Panik, die in mir brodelt. Und wenn ich meinen Laptop habe, werde ich meine Verteidigung schreiben. Die ungeschminkte Wahrheit in aller Widersprüchlichkeit. Sie werden mir glauben müssen. Zuversicht begleitet mich einige Drehungen weg vom Fenster, weg von der Tür, weg vom Fenster … Ich werfe Pläne voraus wie die Schlinge eines Lassos, fange ein Stück Zukunft ein, ziehe es trotz seiner erbitterten Gegenwehr heran und bringe es unter meine Kontrolle.
    Aber nur für kurz. Dann würgen mich Angst und Verzweiflung. Ich kann nicht mehr denken. Nicht mehr laufen, sinke aufs Bett und heule. So habe ich nur als Kind geheult. Bis zur totalen Erschöpfung. Bis ich schlafe.
    Auf einmal ist eine Stimme in meiner Zelle. Ich fahre hoch und verstehe gerade noch im Nachhall: … zum Besuchstermin. Wie? Ich wasche mir das Gesicht, dann höre ich auch schon den Schlüssel. Die Schließerin tritt ein, eine andere als heute früh und heute Mittag, dick, aber ebenfalls aufgebrezelt. Sie sagt nichts. Auch sie geht halb hinter mir, obwohl sie mich führen muss. Sie schließt uns raus

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