Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Urteil.
Ich erinnere mich, dass Thomas Mann mal was über die Zeit geschrieben hat. Dass sie bei Gleichförmigkeit und Langeweile kaum zu vergehen, im Rückblick aber verflogen zu sein scheint. Jeder Strafgefangene macht genau diese Erfahrung.
Ich schaffe es nicht, meinen Tagesplan wieder aufzunehmen. Ich kann mich nicht konzentrieren, kann nicht lesen, nicht rechnen, bin zu schwach für meine Gymnastik. Tag für Tag frage ich mich nach dem Aufstehen, nach dem Hofgang, nach dem Mittagessen und dem Abendeinschluss, ob ich Onkel Gerald morgen oder übermorgen bitte, auf die Revision zu verzichten. Da könnte ich jetzt einmal eine Entscheidung treffen und bringe es nicht mehr fertig.
Haftbuch, 1. Oktober
Sie sind gnädig, ich darf wieder im Hausdienst arbeiten. Selina ist nicht mehr da. Mit mir putzt Iteri. Warum gerade sie eine Genehmigung hat, keine Ahnung. Sie ist eine scheue junge Türkin mit Kopftuch, die nach acht Jahren Ehe ihren Mann mit einem Küchenmesser erstochen hat. Sie macht kein Hehl daraus. Er ist ihr widerlich gewesen. Das Leben in seinem Haus bei einer tyrannischen Schwiegermutter und einem übergriffigen und paschahaften Schwiegervater, einem herrschsüchtigen Schwager und einer intriganten Schwägerin war nicht auszuhalten.
Ob es eine andere Lösung gegeben hätte, frage ich nicht. Wo hätte sie hingehen können? Zurück zu ihrer eigenen Familie jedenfalls nicht. Die haben sie ja in diese neue Familie verheiratet. Und der Totalausbruch aus der türkischen in unsere westliche Welt war Iteri nicht möglich.
Sonntag, 6. Oktober
Raureif umhäkelt die Blätter des Ahorns. Sie verfärben sich schon. Eifrig wirft er seine geflügelten Samenkörner in den Wind. Im Fernsehen zeigen sie Menschen, die den goldenen Oktober genießen.
Sonntag, 13. Oktober
Die ersten sieben Jahre steht man durch, hat uns Uschi beim Mittagessen erzählt. Sie sitzt zum zweiten Mal in U-Haft wegen eines Gewaltdelikts und hat schon einmal fünf Jahre abgerissen.
Dann passiert etwas mit einem. Die Kraft ist weg, sagt sie. Man wird zum Knastzombie, zum Schlurfer. Sie haben hier einige im Bereich für die Lebenslänglichen, eine ist 76 Jahre alt. Die Schlurfer träumen zwar noch routinemäßig von der Freiheit, aber raus wollen sie nicht mehr. Sie haben Angst. Überall Automaten und dann das Internet, und so viel Gewalt auf den Straßen. Man kann nicht mehr einkaufen gehen, meinen sie, man muss sich die Sachen per Handy bestellen. Und das werden sie nicht mehr lernen. Wir lachen. Weil es nicht zum Lachen ist.
Sonntag, 20. Oktober
Eben habe ich Yvonne getroffen und mit ihr gesprochen. Nach dem Gottesdienst. Die Schlusen hatten mit einer anderen zu tun, die Stress gemacht und herumgeschrien hat. Wir hatten eine Zigarettenlänge vor der Kirche.
Welche Rechte habe ich, um die Anstalt zu bewegen, mich ins Internet zu lassen?, fragt sie mich. Sie hat zwar einen getunnelten Zugang zur Fernuni Hagen. Aber sie würde gern mal was im Internet nachgucken. Es ist ihr zu wenig, was im Lehrmaterial der Uni steht.
Auch für andere wäre das gut, findet sie. Wenn sie Bewerbungen schreiben, nach Stellen suchen, Kontakte knüpfen wollen zu Berufsnetzwerken, zu zukünftigen Kollegen. Oder wenn sie sich einfach nur schlau machen, ihre Neugierde befriedigen wollen. Aber immer heißt es, das ganze Strafvollzugssystem würde zusammenbrechen.
Ich werde mir Gedanken machen, verspreche ich ihr. Wenn ich erst bei dir drüben bin, dann kämpfen wir fürs Internet. Ich werde Jura studieren. Das Internet für Strafgefangene, das wird mein Projekt.
Haftbuch, 21. Oktober
Ich muss mich zwingen, den kastrierten Computer aufzuklappen. Ja, das Schreiben hat mich mal stabilisiert. Es hat mich in Monaten des Wartens und Hoffens glauben lassen, ich sei ein Mensch, nicht eine Mörderin. Jetzt bin ich eine Mörderin. Und ein anderer Mensch.
Früher war ich schüchtern, ständig beschämt und schweigsam. Jetzt bin ich schnell, clever und realistisch. Ich weise die Neuen ein, organisiere ihre Erstversorgung mit Tabak, Keksen, Instantkaffee und Tauchsieder, ich sage ihnen, was für Anträge sie stellen müssen, wogegen man sich wehren kann und wogegen nicht. Wenn es Streit gibt, greife ich ein, falls es mir notwendig erscheint. Sie hören auf mich. Es wundert mich immer noch jedes Mal.
Die Verbindung nach draußen habe ich verloren. Ich denke nicht mehr daran, was Filiz wohl macht oder was bei Peofis los ist. Ich werde mich in frühestens fünfzehn Jahren wieder
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