Die Ahnen der Sterne: Roman (German Edition)
…«
Das Chaos steigerte sich zu einem heulenden, brüllenden Tumult, dann löste sich alles auf und wurde grau.
Sie kam so plötzlich zu Bewusstsein, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Sie saß in einem Ledersessel, in einem trüb erhellten Arbeitszimmer mit niedriger Decke. Dann bemerkte sie Harry, der in einem ähnlichen Sessel saß, die Hände im Schoß, mit hängendem Kopf. Wie sie trug auch er den altmodischen Trenchcoat, den er bereits bei ihrer ersten Begegnung angehabt hatte. Julia sprach ihn erst flüsternd, dann mit lauterer Stimme an, doch er regte sich nicht.
»Ich fürchte, er wird nicht aufwachen«, sagte ein älterer Mann mit rauer Stimme. »Die Zazin haben ihn bei einem Nahangriff erwischt. Er läuft genau wie Sie auf dem Basissystem, und da tut sich irgendwas, vielleicht ein Autocheck. Aber er reagiert nicht auf äußere Reize.«
Sie erhob sich und musterte die mit Büchern und Akten vollgestopften dunklen Regale, die Schränke und die etikettierten Kartons, die unter den untersten Regalfächern verstaut waren. Eine Tür gab es nicht. Vor einem von einer Lampe mit Schwanenhals erhelltem Schreibtisch stand ein Holzstuhl auf Rollen. Über dem Schreibtisch stand im Regal, eingeklemmt zwischen großen, schweren Büchern, ein archaischer Röhrenmonitor mit grauem, deaktiviertem Display.
»Wer sind Sie? Wo sind Sie?«
Der Bildschirm schaltete sich ein, und ein alter Mann mit faltigem Gesicht und grauem Pferdeschwanz schaute sie an.
»Wir sind uns schon begegnet«, sagte er, und für einen Moment wurde ein wie wahnsinnig grinsendes Gesicht mit schwarzer Schutzbrille angezeigt. Dann nahm wieder der alte Mann seine Stelle ein.
Sie hob die Brauen. »Nicodemus?«
»Alles, was Sie im Glow sehen, ist naturgemäß eine Illusion. Ein Tanz der regenbogenfarbenen Masken und Marionetten.« Er zuckte die Achseln. »Das gilt auch für das Spektakel, das wir vor Kurzem veranstaltet haben.«
Sie wurde von Unbehagen erfasst.
»Ich glaube, Sie schulden mir eine Erklärung«, sagte sie. »Ich habe Ihnen erläutert, was auf dem Spiel steht – wollen Sie jetzt sagen, alles wäre umsonst gewesen?«
»Weit gefehlt, junges Damenbewusstsein«, erwiderte Nicodemus. »Wie sich in Kürze erweisen wird. Bis dahin sollten Sie versuchen, sich zu entspannen.«
Sie schaute sich um. »Aber wo bin ich hier?«
Der Mann lachte leise und tippte sich mit knochigem Finger an die silbergraue Schläfe. »Hier drinnen, wo genau genommen auch ich mich befinde. Wenngleich mein Ich ebenfalls ein Besucher des Basissystems ist, auf dem auch Sie laufen …«
»Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht folgen …«
»Schauen Sie, ich bin hundertneun Jahre alt und habe an diesem alten Denkapparat ein paar Modifikationen vorgenommen. Jetzt reicht die Kapazität aus, um notfalls zwei oder drei fraktalisierte Bewusstseine wie Sie darin laufen zu lassen. Jedenfalls wird das Hauptereignis bald stattfinden – ach, übrigens, ich habe in der Zeit, als wir sozusagen im Transit waren, eine Kopie des Farag-Berichts übernommen. Okay, er ist schon so gut wie hier, also schauen Sie.«
Das Bild des alten Mannes machte eisverkrusteten steinigen Berghängen und steilen Felswänden Platz. Schnee wirbelte vorbei. Julia wurde sich bewusst, dass der Beobachter durch eine Glaswand vom Toben der Elemente getrennt war, und fragte sich unwillkürlich, ob das Bild vielleicht von einer Forschungsstation übertragen wurde.
Der Beobachter (Julia nahm an, dass er mit dem alten Nicodemus identisch war) blickte nach rechts, und jetzt war zu erkennen, dass er in einem verglasten Laufgang stand, der sich um ein seltsames Backsteingebäude herumbog. Man hörte das Geräusch einer sich öffnenden mechanischen Tür. Nicodemus wandte sich in die andere Richtung und sah einen zierlichen Mann in einem dunklen Mantel auf sich zukommen. Julia kannte den Mann, ein Chinese mit grauem Haar und Brille – ihr fiel auch sein Name ein, Tsu Chung Ho, Überrat der Erdsphäre, zuständig für das Shandong-Jiangsu-Koterritorium, ein erfahrener Politiker mit gutem Ruf.
Tsu Chung näherte sich Nicodemus mit energischen Schritten und hielt unmittelbar vor ihm an. Lächelnd schwenkte er den Zeigefinger.
»Dreißig Jahre ist es her, und Sie warten, bis ich zufällig im Urlaub bin … Schockierend, Nicholas, zumal meine Reisepläne eigentlich geheim bleiben sollten!«
Lachend schüttelten sich die beiden die Hand.
»Eine Schande, Sie haben recht«, sagte Nicodemus/
Nicholas. »Aber vor
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