Die Ahnen von Avalon
ausladender Rock mit eingewobenen Streifen in verschiedenen Farben fiel ihr in Falten um die Füße. Khayan-e-Durrs braunes Haar, zusammengefasst in einem Netz aus gedrehtem Band, war von grauen Strähnen durchzogen, doch die Königin hatte etwas Majestätisches an sich, das nicht von einer eleganten Aufmachung abhängig war.
Im Lauf der vergangenen Monate war deutlich geworden, dass die eingeborenen Frauen über wahre Macht verfügten, wenn auch auf eigene Weise.
Traditionsgemäß war die Königin nicht Khattars Gemahlin, sondern seine älteste Schwester, und manchmal hatte es den Anschein, als ob sie in ihm kaum einen erwachsenen Mann sähe. Es war ihr Sohn Khensu, nicht der seine, der Khattars Erbe antreten würde; überdies stand ihr und den Müttern der Sippe das Recht der letzten Entscheidung über Krieg oder nicht Krieg zu.
Sie zeichneten die Paarungen sowohl der Tiere als auch der Menschen auf, und bevor die Männer in den Krieg ziehen konnten, mussten die Frauen bestätigen, dass sie über die nötigen Mittel dazu verfügten, sonst wurde nichts aus dem Vorhaben. Innerhalb der Priesterkasten von Atlantis wurden bestimmte Machtbereiche zwar von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau weitergegeben, dennoch war im Tempel oder Palast das Geschlecht einer Person niemals ausschlaggebend für ein hohes Amt. Schließlich wechselte die Seele von einer Lebensspanne zur nächsten ja immer wieder das Geschlecht. Aber solches Wissen war bei den ungebildeten Eingeborenen wohl nicht zu erwarten.
»Der König hat eine Tochter namens Anet«, sagte Khayan. »Sie ist im mannbaren Alter. Zurzeit hält sie sich mit ihrer Mutter im Heiligtum der Göttin in Carn Ava auf, aber vor Wintereinbruch wird sie zurückgekehrt sein. Wir werden sehen, wie er ihr gefällt. Ja… diese Vereinigung könnte von Nutzen sein.«
Cleta beugte den Kopf vor und flüsterte: »Aber die Frage ist, ob sie Micail gefällt. Und was wird Tjalan dazu sagen?«
Khayan lag das Wohlergehen ihres Volkes zweifellos am Herzen, doch unterstützte sie auch das Ziel des Königs, für seinen Stamm die Vorherrschaft zu erringen? Während der vergangenen Monate hatte sie Elara sozusagen zu ihrer Lieblingsbegleiterin gemacht, und Tjalan hatte diese bei seinem letzten Besuch in Azan bedrängt, das Vertrauen der Königin zu erlangen. Dennoch hatte Elara das Gefühl, Khayans wahre Gedanken kein bisschen besser zu kennen als zuvor.
»Und ihr beide«, sagte die Königin unvermittelt, »auch ihr müsst euch Gedanken über zukünftige Ehemänner machen.«
»Oh, Cleta hat einen Verlobten, der noch in Belsairath weilt. Und ich bin mit Lanath verlobt«, sagte Elara mit einem leicht bitteren Unterton.
»Ihr habt bisher nichts von Heiraten gesagt.«
Elara zuckte mit den Schultern. »Es… gibt zuvor noch einiges zu tun. Wir müssen unsere Ausbildung endlich abschließen.«
»Ha!« Die Königin grinste. »Mädchen glauben, dass sie ewig jung bleiben. Aber es stimmt, in den Kreisen der Priesterinnen verhält es sich anders.« Ein kurzes Schweigen kehrte ein, doch bevor eine der anderen das Wort ergreifen konnte, sprach Khayan weiter. »Eure Herrin Timul ist weit weg, aber ihr seid hier. Vielleicht sollte ich euch zu Ayo schicken.«
Cleta runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen. »Ayo? Das ist doch die Gemahlin des Königs?«
»Ja, aber sie ist auch Heilige Schwester in Carn Ava«, sagte Khayan nickend und lächelte. »Die Frauen der Stämme verfügen über ein gemeinsames Wissen, das den Männern manchmal unbekannt ist. Um von euch zu uns zu gelangen, führt der Weg über die Küste. Ayo sagt, die Priesterinnen des Blauen Ordens, die dort den Tempel der Großen Mutter gebaut haben, verstünden etwas von unseren Mysterien. Und das… das geht die Schamanen nichts an. Ja, ich denke, die Schwesternschaft würde gern mit euch reden.«
Das muss ich Ardral sagen! Elara starrte die Königin an, in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Oder doch nicht…? Khayan war nur eine Ai-Zir, aber sie hatte Recht. Das waren Frauenmysterien, die nicht mit einem Mann geteilt werden durften. Irgendwie musste sie Timul eine Botschaft übermitteln…
Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. »Mir ist sehr an einem Treffen mit ihnen gelegen.«
Micail holte tief und lange Luft und atmete den frischen Wind ein, der die Ebene liebkoste. Er war früh hinausgegangen zu der Stelle, wo am Morgen die Steine aufgerichtet werden sollten; die aufgehende Sonne hatte einen strahlenden Tag
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