Die Ahnen von Avalon
geben?«
Doch Iriel sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Es gibt schließlich auch Höhlen am Heiligen Berg«, sagte sie, als ob damit die Angelegenheit geklärt wäre. »Komm jetzt«, fügte sie hinzu und stand auf. »Hast du nicht gesagt, man warte auf uns?«
Ein Brauch von Atlantis, den die Immigranten hatten wieder aufleben lassen können, war das gemeinsame Abendessen. Auf Ahtarrath hatten die Priesterschüler in einem quadratischen Raum gespeist, der von Hängelampen erleuchtet und mit einzelnen Bildern von Meereskraken geschmückt gewesen war, deren zartes Fleisch ein Grundbestandteil der atlantidischen Küche war.
Im Gegensatz zu den Behausungen der Eingeborenen war der Speisesaal, den die Atlantiden auf dem Heiligen Berg gebaut hatten, rechteckig, mit Türen entlang der Wände, die geöffnet werden konnten, wenn das Wetter es zuließ. Hier versammelte sich die ganze Gemeinde, mit Ausnahme einiger Seeleute, die einheimische Frauen geheiratet hatten und mit diesen im Dorf lebten. Man saß um eine längliche Feuerstelle in der Mitte, deren Rauch spiralförmig durch eine Öffnung in der spitz zulaufenden Decke aufstieg.
An einer Wand stand die kleine Caratra-Statue auf einem Sockel, der aus einem dicken Holzklotz gefertigt worden war. Tiriki bemerkte mit einem Lächeln, dass jemand ein paar rote Astern vor dem Abbild der Göttin niedergelegt hatte. Sie fragte sich, wer das gewesen sein mochte und welche Worte diese Handlung wohl begleitet hatten - falls sie nicht in aller Stille vonstatten gegangen war.
Die Flüchtlinge sprachen immer noch häufig von Ni-Terat, wenn sie Caratra meinten, während die Eingeborenen sie ›Mutter des Herdes‹ nannten, doch alle fanden Trost in ihrer liebevollen Zuwendung. Heute jedoch hatte Tiriki noch mehr als sonst das Gefühl, nicht an diesen Ort zu gehören. Zu Hause hatte sie dem Licht in Gestalt des mächtigen, aber fernen Manoah gedient, dessen Gegenwart nur in äußerst seltenen ekstatischen Trancezuständen erfahren werden konnte. Doch auf dem Heiligen Berg lebten sie alle sehr erdverbunden, und es erschien passender, dass die Große Mutter, die ihre Kinder niemals verließ, hier in der Mitte der Gemeinde ihre Heimat hatte.
Tiriki ließ erneut den Blick über die Anwesenden schweifen, die im Saal speisten, und lächelte; dabei fielen ihr Rajastas Worte ein: »Es sind die Menschen, nicht Manoah, die steinerne Denkmale brauchen. Ihn kann man niemals vergessen. Die Sonne ist sein Denkmal.« Außerdem, so kam ihr zu Bewusstsein, war dies ein Ort des Lichtes.
Und so war es. Im Sommer blieb die Sonne bis weit in den Abend hinein am Himmel, als ob sie den Mangel an Kraft durch langes Scheinen wettmachen wollte; ihre langen Strahlen fielen schräg durch die Westtüren in den Raum und erfüllten ihn mit einem goldenen Glanz. Das honigfarbene Licht umgab ihre schäbige Kleidung wie ein Schleier und ließ die zahllosen Flecken und Flicken wie feinen Zierrat erscheinen. Tiriki überkam unerwartet ein Gefühl von Erhabenheit. Obwohl sie in den Versammelten immer noch dieselbe stolze Priesterschaft erkannte, die einst im Alten Land geherrscht hatte, waren die Gesichter, die sich ihr jetzt zur Begrüßung zuwandten, von Furchen gezeichnet, die Ausdauer und Entbehrung gegraben hatten; gleichzeitig ging ein Strahlen von ihnen aus, das sie im Tempel von Ahtarrath niemals gesehen hatte. Sie hatte den Eindruck, dass sogar in den Augen des weisen alten Chedan eine neue Weisheit leuchtete.
Als Tiriki ihren Platz am Kopfende eines langen Tisches einnahm - gleich neben Domara -, ging sie in Gedanken die Liste der Anwesenden durch. Reidel und die unverheirateten Seeleute saßen gemeinsam an einem Tisch, wobei sie auch hier die an Bord eines Schiffes übliche Sitzordnung einhielten. Chedan saß an der Stirnseite eines anderen Tisches, flankiert von Forolin und dessen Familie auf der einen und den Priestern Rendano und Danetrassa auf der anderen Seite. Die Saji-Frauen waren nicht zugegen, sie nahmen ihre Mahlzeiten für gewöhnlich in ihren Privatgemächern mit Laila und Alyssa ein; trotzdem war die Gruppe um Tiriki alles andere als ruhig, denn um sie scharten sich die Priesterschüler.
Damisa und Selast saßen nebeneinander, wie in letzter Zeit meistens, und Elis war in ein Streitgespräch mit Kalaran vertieft - ebenfalls nichts Ungewöhnliches. Selbst jetzt schien sich Kalaran nicht besonders gut mit irgendjemandem zu vertragen, als ob die Trauer über die Gefährten, die er
Weitere Kostenlose Bücher