Die Ahnen von Avalon
verloren hatte, ihn immer noch davon abhielte, sich an jenen zu erfreuen, die verblieben waren. Tiriki bemerkte stirnrunzelnd, dass der Platz neben ihm leer war.
»Wo ist Iriel?«, fragte sie laut.
Die Priesterschüler sahen sie an und warfen sich dann gegenseitig fragende Blicke zu.
»Ich habe sie seit dem Unterricht heute Nachmittag nicht mehr gesehen«, meinte Elis. »Du hast uns gar nicht gesagt, warum ihr beide so spät gekommen seid, Damisa. Arbeitet sie vielleicht gerade an einem Projekt, zu dem sie zurückgekehrt ist und worüber sie mal wieder die Zeit vergessen hat?«
Damisa schüttelte den Kopf und runzelte nachdenklich die Stirn. »Von einem Projekt weiß ich nichts«, sagte sie schließlich. »Aber ich hatte eigentlich die Absicht, es euch zu sagen… Wir sind deshalb so spät gekommen, weil wir einen Bären gesehen haben.« Sie hatte die Stimme erhoben, und mehrere der Anwesenden drehten sich zu ihr um.
»Einen was?«, rief Reidel aus. »Gibt es hier etwa Bären?«
»Soviel ich weiß, hat es lange Zeit keine mehr gegeben«, antwortete Damisa. »Iriel war ganz und gar hingerissen. Offenbar ist die Bärenmutter hier etwas sehr Mächtiges, und die Sumpfbewohner ehren sie mit bestimmten Ritualen - in heiligen Höhlen.« Sie verdrehte die Augen, da sie von dem letzten Teil der Geschichte immer noch nicht so recht überzeugt war.
»Sie hat sich doch nicht etwa aufgemacht, um diesen Bären zu suchen?« Elis sprach den Gedanken aus, der allen durch den Kopf ging. Tirikis besorgter Blick traf Chedans.
»Wir müssen sie suchen!« Reidel schob seinen Stuhl zurück und stand auf; seiner Natur gemäß übernahm er sogleich die Rolle des Befehlshabers. »Die Sümpfe können sehr tückisch sein, und wir wollen nicht noch weitere Opfer beklagen müssen. Wir bilden verschiedene Einsatztrupps - Tiriki und Chedan können die Suche von hier aus koordinieren. Elis sollte ebenfalls hier bleiben, für den Fall, dass eine Botin gebraucht wird. Cadis, ich möchte, dass du dich im Siedlungsgelände umsiehst, um sicherzustellen, dass sie nicht irgendwo hier in der Nähe ist. Teiron, du durchsuchst das Gebiet um den See und läufst dann so schnell wie möglich ins Dorf und bittest Reiher, Jäger auszuschicken, die den Bären aufspüren sollen. Otter hilft bestimmt dabei. Anscheinend liegt ihm ziemlich viel an Iriel. Damisa, Selast und Kalaran - ihr kommt mit mir. Der Heilige Berg muss abgesucht werden, und die Dorfbewohner weigern sich bekanntlich, ihn zu betreten.«
Damisa griff erneut nach einem Ast, als ihr Fuß wieder abrutschte, und klammerte sich daran fest, wobei ihr Atem in keuchenden Stößen ging. Über ihr ragte der Hang des Heiligen Berges auf wie ein Sternenhaufen am Nachthimmel. Sie stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus, als sich eine Hand mit hartem Griff um ihren Arm schloss.
»Ich bin's nur«, murmelte Reidel ihr ins Ohr; sie schmiegte sich mit einem Seufzer der Erleichterung an seinen starken Arm, ein wenig erstaunt über das Gefühl von Sicherheit, das ihm seine Nähe gab. Die Fackeln waren schon vor einiger Zeit erloschen, und die Welt war in ein Gewirr von Schatten versunken. Reidels Arm war wie ein Fels in der Brandung inmitten einer Welt, die vollkommen aus den Fugen geraten zu sein schien.
»Ist der Heilige Berg größer geworden, oder suchen wir immer wieder an denselben Stellen?«, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte.
»So hat es fast den Anschein«, antwortete Reidel betrübt. »Diese vielen Bäume - sie verwirren mich. Beinahe wünschte ich, ich wäre wieder auf See.«
»Zumindest sehen wir die Sterne.« Sein Arm hielt sie weiter fest umfasst. »Leiten sie Euch denn nicht genauso an Land wie auf See?«
»Doch, schon…« Er wandte den Kopf gen Himmel und sah das leuchtende Rad hoch über dem Geäst. »Und ehrlich gesagt…« Er machte eine kleine Pause, und als er wieder sprach, schwang eine Befangenheit in seiner Stimme mit, die zuvor nicht da gewesen war. »Ehrlich gesagt, ich möchte nirgendwo anders sein als hier.« Dann ließ er sie sehr sanft los. »Ich hoffe, Selast und Kalaran hatten mehr Glück als wir«, fügte er hinzu und blickte erneut nach oben, offenbar ohne eine Antwort von Damisa zu erwarten.
Was hätte ich auch sagen sollen, überlegte sie. Warum soll ich ihn fragen, was er meint, wenn ich es ohnehin weiß? In der Alten Welt hätte ein Mädchen von nobler Herkunft, selbst wenn sie nicht für den Tempel des Lichtes bestimmt gewesen wäre, niemals mit jemandem
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