Die Ahnen von Avalon
ist, wofür Ihr Euch in diesem Land einsetzen sollt?«
»Ich? Aber…« Sie stellte fest, dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«
Reidel kam wieder näher zu ihr und antwortete leise: »Wisst Ihr das wirklich nicht? Warum habt Ihr dann Tjalan nicht einfach verraten, wie er den Heiligen Berg findet?«
»Es steht mir nicht zu, Entscheidungen für Meister Chedan zu treffen.« Jetzt erhob auch Damisa sich und ging ein paar Schritte von ihm weg, bis zur Mauer und wieder zurück, bevor sie in abgehackten Sätzen weiter sprach. »Oder für Tiriki… Ich meine… wir alle müssen eine Wahl treffen… ich weiß nicht…«
»Oh, daran besteht kein Zweifel.« Reidel lehnte sich mit überkreuzten Armen an den Stamm der Eiche. Damisa war sich nicht ganz sicher, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten sollte, doch sie glaubte, ein Lächeln zu erkennen.
Dieser Mann ärgert mich!, dachte sie. Seit sie sich nach ihrer Begegnung im Jahr zuvor ihm gegenüber so grausam verhalten hatte, hatte er nie wieder von seiner Liebe zu ihr gesprochen; heute jedoch wirkte er nicht mehr so verletzt, strahlte nicht mehr diesen vorwurfsvollen Groll aus wie damals. Es war, als ob sie ohne eine Aussprache zu einer neu gearteten Beziehung gekommen wären - jedenfalls, was ihn betraf -, und seine spürbare Ausgeglichenheit verunsicherte Damisa.
»Ich möchte Euch persönlich eine Frage stellen«, sagte sie. »Ihr sagt, Ihr seid meinetwegen hier. Wenn ich nun zu dem Schluss komme, dass Tjalan Recht hat, werdet Ihr mich dann unterstützen?«
»Ihr spinnt Eure Fäden schlau«, sagte er, nachdem ein paar Augenblicke vergangen waren. »Ich wette, Tjalan hat keine Ahnung, wie stark Ihr seid, oder? Nebenbei bemerkt - habt Ihr selbst eine Ahnung davon? Wirklich, ich vermute, wenn es nötig sein sollte, könntet Ihr auf diesen Baum klettern und ganz ohne Hilfe über die Gartenmauer steigen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ihr schon schwierigere Dinge geschafft habt.«
Damisa errötete vor Wut, während Reidel den Kopf schüttelte und seufzte. »Ich gebe Euch die gleiche Antwort, die Ihr mir gegeben habt - ja und nein. Was ich hier gesehen habe, überzeugt mich, dass Tjalan nicht zum Regieren taugt. Ich glaube nicht, dass ich ihm helfen möchte. Aber versteht mich nicht falsch, Damisa. So oder so, ich hatte in letzter Zeit reichlich Gelegenheit zum Nachdenken. Mir ist klar geworden, dass es mir vom Schicksal bestimmt ist, Euch zu lieben, gleichgültig, ob Ihr etwas Ähnliches für mich empfindet oder nicht. Und um Euch zu beschützen, würde ich mit Freuden meinen letzten Tropfen Blut hingeben.«
»Wir haben uns in höflichem Einvernehmen getrennt«, berichtete Tiriki mit einem Unterton der Verbitterung, »trotzdem sollten wir darauf gefasst sein, dass wir uns verteidigen müssen. Wir haben lediglich etwas Zeit gewonnen.« Sie ließ den Blick über die anderen Mitglieder ihrer Gemeinde schweifen, die auf grob gezimmerten Bänken um das Ratsfeuer herum saßen. Sie waren für sie ihre Familie.
Obwohl es noch früh am Nachmittag war, hatte sie ein paar Holzklötze ins Feuer gelegt, nicht um mehr Wärme zu bekommen, sondern zur symbolischen Erhellung. Im Tempel des Lichtes hatte auf dem Altar in einer Lampe aus reinem Gold eine ewige Flamme gebrannt, von einer unbekannten Quelle gespeist. Dieses schlichte Holzfeuer zwischen den Bäumen war nur ein schwacher Abglanz davon, aber das eine Licht war wie das andere - ein Sonnensplitter.
Und ich bin nicht weniger eine Priesterin, sagte sie zu sich selbst. Ich hatte erwartet, dass Micail das verstehen würde.
»Wie?«, fragte Kalaran. »Ihr sagt, dass Reidel immer noch - wieder - deren Gefangener ist?«
Elis nickte. »Das müssen wir annehmen.«
»Dann meint Ihr also, dass Tjalan jemanden hat, der seine Soldaten hierher führen kann - um uns anzugreifen?«, fragte Liala mit bebender Stimme.
Tiriki nickte. »Und das ist noch die geringste meiner Befürchtungen. Micail hat mir etwas von einer Kultstätte erzählt, mit deren Errichtung er und die anderen seit Jahren beschäftigt sind - ein Gebilde aus Steinen.«
»Bei Adsars Auge!«, fluchte Chedan. Er sah sich im Kreis der verständnislos dreinblickenden Gesichter um. »Aber natürlich könnt ihr das nicht begreifen! Nur die höchsten Ränge der Priesterschaft kennen die Natur solcher Stätten, nur sie wissen dank ihrer Ausbildung um deren Bedeutung, und ich glaube, seit Jahrhunderten hat niemand mehr
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