Die Akte Daniel (German Edition)
die nächste Stunde immer wieder vor eine Wand gelaufen, unterließ es aber, da es ganz sicher nichts brachte. Okay, er kannte Nachtlinge, aber sie kannten wirklich keinen Takt, keine Grenzen und in gesellschaftlichen Dingen auch keine Angst. Er seufzte.
»Was denn? Komm, iss noch was. Du siehst blass aus.«
»Ja, ich esse ja schon. Ich überlege nur, ob Stella jetzt auch das Gleiche wie ich denkt. Aber egal: Ziel erreicht, wir kriegen die Theorie samt der Werkzeuge.«
»Eben. Und stört dich, was Stella denkt?«, fragte Sunday mit vollem Mund.
»Nein, nicht wirklich«, murmelte Daniel und lehnte sich ans Bett. Er streckte und dehnte sich. »Also: bis zum Lehrunterricht noch eine Trockenübung?«, fragte er gerade heraus.
»Klar doch«, Sunday wischte sich die Nutellareste aus dem Gesicht und krabbelte zu Daniel hinüber.
»Okay, auf zur drittletzten oder viertletzten oder ...« Daniel küsste Sunday.
Die nächsten paar Tage fing bereits die angedrohte Evakuierung an. Alle Bewohner der Schule wurden angewiesen, ihre Sachen zusammenzupacken, und dann kamen nach und nach die Busse, brachten immer wieder einen Schwung Schüler zu ihrem neuen Bestimmungsort. Nicht einmal Sundays Ziehvater hatte ihm vorher erzählt, wo es hingehen sollte. Der Ort musste um jeden Preis geheim gehalten werden.
Schließlich sahen Daniel und Sunday jedoch mit eigenen Augen ihre neue Heimat: ein riesiges, altes Fabrikgelände in einem Vorort von Manchester, ironischerweise nicht weit von Daniels Elternhaus entfernt. Das Gelände jedoch und das Gebäude selbst war einer vollkommenen Umstrukturierung unterworfen worden. Man hatte die alten Trakte in einen Park eingebunden, neue Wege angelegt und die Mauern waren mit Sandstrahlern sauber gemacht worden. Neue Fenster blinkten in der hochstehenden Sonne und verbargen den Blick in ein vollständiges, hochmodernes Innenleben. Dazu gehörten auch Zimmer für die Schüler und die Lehrer, modern ausgestattete Klassenräume und Gemeinschaftsbereiche.
Den ersten Tag verbrachten die Neuankömmlinge nur damit, alles zu erkunden. Es hatte nicht den vertrauten, gemütlichen Charme ihrer alten Schule, aber mit der Zeit würde es sicher angenehmer werden. Daniel und Sunday bekamen wieder ein gemeinsames Zimmer, von dem aus sie über das halbe Gelände blicken konnten.
Sie hatten sogar einen Baum vor dem Fenster. Man hatte sie informiert, dass man für die Aussicht auf einen traditionellen, alten Park sogar ausgewachsene Bäume versetzt hatte. Insgesamt war die Schule schon seit einem halben Jahr fix und fertig. Eigentlich hatten sie von der alten Schule gar nicht hier herkommen sollen. Der neue Stützpunkt war für den wachsenden Bedarf von anderen Schülern, vornehmlich Telepathen und anderen Psi-Talenten, gedacht gewesen.
Die Invasion und die Entführung hatte all diese Pläne zunichtegemacht und die Telepathie-Schüler, die die Schule erst seit Kurzem besuchten, sahen sich einer Menge fremder Leute aus dem alten Internat konfrontiert, welches einen geradezu legendären Ruf genoss, den das neue Institut erst erringen musste. Für die Flüchtlinge hatte der Umzug jedoch einen unbestreitbaren Vorteil: Sie waren näher an einer Stadt. Für die Telepathen hieß das aber auch, dass sie sich jetzt schneller den Herausforderungen stellen mussten, die die Nähe so vieler Menschen mit »offenen Gedanken« mit sich brachten. Nur von den Nachtlingen hatten sie nichts zu befürchten in der Hinsicht.
Doch alles war teuer bezahlt: Von den Entführten kehrten vier Kinder nicht wieder zurück. Ein Telepath und drei Nachtlinge blieben unauffindbar.
Und obwohl die geretteten Kinder umso glücklicher wieder in ihre Mitte aufgenommen wurden, lastete der Verlust noch schwerer auf ihnen. Der Direktor hatte in seiner Rede alle zu größter Vorsicht in der Zukunft ermahnt und sie angehalten, gut aufeinander aufzupassen.
Nachdem etwas Ruhe eingekehrt war, begann auch wieder der Unterricht. Die Klassen waren nun größer als sonst, da im Augenblick noch Lehrer fehlten und die Telepathen bisher in anderen Klassen gewesen waren. Für Daniel, der außer Mrs. Terranto keine anderen Telepathen näher kennengelernt hatte, war es etwas Neues.
Sehr schnell musste er jedoch feststellen, dass sich viele von ihnen ihm gegenüber abweisend zeigten, ja geradezu feindselig; offenbar hatten sie von dem »Wunderkind« gehört, das der Ordo gerade noch hatte retten können und waren von dieser Aussicht nicht gerade begeistert,
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