Die Akte Daniel (German Edition)
zusammen und mit niemandem sonst sprach er über private Dinge – als ob er selbst so etwas wie ein Privatleben jemals gehabt hätte, geschweige denn, dass er sich an so etwas erinnern konnte. Er war jünger als Berenice gewesen, als er zur Firma kam. Er war entführt worden, so wie er selbst alle Kinder später entführte, als er nahezu ausgewachsen war. Er vergaß sehr schnell, wer seine Eltern waren und wie er wirklich hieß. Er vergaß alles. Doch jetzt, wo sich sein Lebenshorizont abzeichnete, hätte er gern gewusst, wer er eigentlich war und woher er kam. Aber das war reine Hoffnung ohne Substanz. Er hatte keine Zukunft und allein der Tod war der letzte Weg, der ihm blieb, wenn die Medikamente versagten.
Jason wollte mechanisch seine Ration an Medikamenten schlucken, doch dann steckte er sie weg. Er würde sie brauchen, wenn sie unterwegs waren. Die Foundation konnte und würde ihn nicht mehr versorgen. Er brauchte mehr.
Vielleicht war es das Beste, wenn er sich vor der Flucht mit einem kleinen Vorrat eindeckte; seines Wissens waren die Medikamente in den Vorratsräumen neben den Labors. Sobald die Wissenschaftler ihre Arbeit für den Tag beendet hatten, würde er einen kleinen Abstecher dorthin machen.
Jason wartete geduldig bis zur Nacht. Sobald die letzten Geräusche auf den Fluren verklungen waren, verließ er das Zimmer und huschte hinunter zu den Labors. Sicherheitskameras waren überall installiert, aber einen Dämon konnten sie nicht aufzeichnen. Schnell war einer der Lagerräume gefunden und mit der Zugangskarte geöffnet. Es gab keinen Grund für die Foundation , die Medikamente einer höheren Sicherheitsstufe zuzuordnen, als sie einem gewöhnlichen Assistenten oder einem Zubringer wie ihm normalerweise ausgegeben wurde. Medikamentenmissbrauch gab es häufiger. Aber man sah mit beiden Augen weg, solange alles wie gewünscht funktionierte. Große Vorräte seiner ganz speziellen Medizin gab es sowieso nirgendwo, sodass er sich niemals für lange Zeit dem Zugriff der Foundation würde entziehen können.
Die Sicherheitsmannschaft würde erst morgen früh merken, dass er sich zu ungewöhnlicher Zeit Zugang verschafft hatte und wenn Berenice fort war, wussten sie auch, warum. Jason wusste aber auch, dass sie damit rechneten, dass er reumütig wiederkam, weil die Schmerzen zu stark wurden. Aber da er das nicht vorhatte, begann in diesem Moment der Wettlauf mit der Zeit.
Jason puschte ein Adrenalinschub. Er versorgte sich ausreichend mit Medikamenten, sorgte für ein paar trockene Vorräte, die sie essen konnten, wenn sie nichts fanden, und besorgte auch noch für Berenice Kleidung in ihrer Größe. Draußen durften sie nicht auffallen. Dann machte er sich auf den Weg zurück in den Zellentrakt der Nachtlinge, wo ihn Berenice schon erwartete.
Sie war ungeduldig im Zimmer auf und ab gewandert und wandte sich um, als Jason eintrat. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr, weil du es dir anders überlegt hast«, wisperte sie und konnte dabei nur schlecht ihre Angst verbergen.
»Über so etwas macht man keine Scherze, Berenice«, erwiderte Jason genauso leise. »Entweder man tut es oder man tut es nicht.« Er ließ die Sachen auf Berenices Liege fallen. »Pack sie ein. Ich werde sie tragen. Dann verwandelst du dich.«
Das Mädchen nickte. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd, wie alle Nachtlinge im Labor, und stopfte mit ein paar Handgriffen die Kleidung in den Kopfkissenbezug, den sie ganz klein rollte. Sie sah Jason kurz an. »Wir schaffen das”, versicherte sie nicht nur ihm. Der Stoff ihres Nachthemds fiel zu Boden, und darunter krabbelte ein kleines schwarzes Kätzchen hervor. Seine großen dunklen Augen musterten Jason erwartungsvoll.
Dieser rollte auch das Kleidungsstück zusammen und steckte es weg. Er nahm das provisorische Gepäck unter seinen Arm und hockte sich hin. Mit seiner Hand lockte er das Kätzchen an und Berenice hopste mit federnder Leichtigkeit seinen Arm empor, um von da auf dessen Schulter zu klettern und dort Platz zu nehmen, die kleinen, scharfen Krallen fest in die Jacke vergraben. Eine Zehntelsekunde später war der Raum bereits leer, und ein Schatten flog mit wahnsinniger Geschwindigkeit Richtung Ausgang.
Der Computer registrierte, dass Jason Ghost das Gebäude verlassen hatte, da er ein letztes Mal seine Codekarte benutzte, dann war wieder geziemende Ruhe im Laborkomplex der Firma. Nur ein paar Nachtlinge begannen leise Gebete zu sprechen, die sie in ihrer geheimen
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