Die Akte Daniel (German Edition)
spürbar, dass es bis zum Sonnenaufgang nicht mehr lange hin war. Er zeigte an, dass er bei der nächsten Haltestelle aussteigen wollte. Sie mussten ein Quartier nehmen oder zumindest einen ruhigen Ort aufsuchen, wo sich Berenice ungestört anziehen konnte.
Die Straßen waren noch nicht sonderlich belebt, und Jason eilte die nächste Allee hinunter. Ein Bistro erheischte mit einem blinkenden Neonlicht Aufmerksamkeit und zeigte, dass es schon geöffnet hatte. Der Geruch von gebratenem Schinken und Eiern wehte einladend zu ihnen herüber. Jason schob die Tür auf, wählte einen freien Tisch, bestellte ein ausgiebiges Frühstück und verschwand dann in Richtung Toiletten.
Frauen oder Männer, fragte er sich. Er entschied sich für Männer. Ein Mann auf einer Frauentoilette war anrüchiger und problematischer als eine Frau auf einer Männertoilette. Er schaute sich um, ob sie auch allein waren.
Zum Glück war es hier sauber und es roch nach Putzmitteln. Er wollte Berenice nicht ein schmutziges Klo zumuten. Vorsichtig nahm er sie aus seiner Tasche und setzte sie auf den Spülkasten einer freien Kabine. Er stellte die Tasche auf den Boden, dann schloss er die Tür und bezog davor Posten.
Ein paar Minuten später kam Berenice hinaus und trat vor den Spiegel, um sich die Haare zum Zopf zu binden. Die Rastazöpfe waren längst herausgewachsen, und nun hingen dem Mädchen die leicht gekräuselten Strähnen bis zur Taille. Sie musterte kurz ihr Spiegelbild und wandte sich dann lächelnd zu Jason um.
»Wir haben es geschafft!« Es klang, als wäre ihr das erst jetzt richtig klar geworden. Im nächsten Moment hatte sie auch schon Jason umarmt.
Dieser hielt sie fest. Er wollte ihr nicht sagen, dass sie es noch lange nicht geschafft hatten. Sie mussten sich verstecken, sie mussten von etwas leben und er hatte von alle dem nicht die geringste Ahnung. Seine Medikamente waren begrenzt und Berenice war insgesamt noch lange nicht in Sicherheit.
Aber all das zählte für das Mädchen im Augenblick nicht; da war nur der Gedanke an frische Luft, Sonne und die endlosen Straßen von London. Berenice wischte sich kurz über die Augen. »Ich habe Hunger«, erklärte sie und lächelte etwas schief.
Jason sah die Tränen und er konnte ihre Gefühle verstehen. »Lass uns essen. Ich habe uns etwas bestellt. Ich habe auch mächtigen Hunger.«
Erleichtert ergriff Berenice seine Hand und zog ihn zurück in den Bistroraum. Der Wirt hatte bereits ein opulentes Frühstück aufgetischt, und die beiden machten sich darüber her.
Jason hatte mehr Hunger als ein normaler Mensch. Gleiches galt für Berenice als Nachtling. Ihre Kalorienzufuhr, die sie jeweils pro Tag brauchten, war immens. Aber es scherte sie im Moment wenig, dass sie beim Wirt Erstaunen hervorriefen. Sie waren in der frühen Morgenstunde gute, weil zahlende Gäste. Erst in einer halben Stunde kamen all die, die zur Frühschicht mussten und dann schnell ihr Frühstück brauchten.
Bis dahin gedachten die zwei allerdings wieder unterwegs zu sein. Die Frage war nur, wohin.
Berenice trank ihre dritte Tasse Kakao leer und sah zu Jason. »Dieser Ordo ... denkst du, sie könnten uns helfen?«
»Wir sind Feinde und ich kann nicht erwarten, dass ich ungeschoren davonkomme. Ich war es, der ihnen ständig einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Sie werden mich umbringen, wenn sie sehen, dass ich ihnen nichts mehr nütze. Aber du könntest dorthin. Sie sollen anständig sein, habe ich mir sagen lassen. Sie würden dir helfen.«
»Aber ... ohne dich will ich da nicht bleiben. Und wenn sie wirklich so anständig sind, werden sie auch dir nichts tun«, widersprach Berenice mit Nachdruck.
Jason lachte. »Nein, sie werden da nicht anders sein als die Foundation . Wir sind und bleiben Feinde. Aber ich werde dich zum Ordo bringen. Sie werden dich vor der Foundation schützen, Berenice.«
Berenice biss sich auf die Lippe. Ihr Unwillen war ihr anzusehen. »Und was willst du machen?«, fragte sie vorwurfsvoll und besorgt.
Jason strich ihr eine Locke hinter die Ohren. Sein Körper schmerzte. Er musste bald die Medikamente nehmen – egal, wie umsichtig er mit seinen Vorräten umgehen musste. »Ich werde meine letzten Tage genießen. Ich bin alt. Irgendwo wird ein Plätzchen für mich sein. Da bin ich sicher.«
»Jason, vielleicht kann dir der Ordo helfen? Oder sonst jemand? Vor vier Jahren hast du zwanzig Jahre jünger ausgesehen; du bist nicht alt, du siehst nur so aus. Es muss doch
Weitere Kostenlose Bücher