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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Boulevardpresse, eine so genannte offene Ehe), war die Ehe kinderlos geblieben. Und so kam es, dass an diesem sonnigen, aber kühlen Vorfrühlingsmorgen vier stattliche Witwen tief verschleiert und in schwarzen Kostümen bekannter Designer am offenen Grab standen und ihren Tränen freien Lauf ließen, was den Pfarrer, der auf Bestellung tröstende Worte vom abgegriffenen Blatt las, in tiefe Ratlosigkeit stürzte, wusste er doch nicht, welcher der vier möglichen Witwen er tröstend ins verschleierte Antlitz blicken sollte.
    Ein paar Fernsehteams und eine Hand voll Zeitungsreporter balgten sich um die beste Aussicht. Der Priester redete vom Himmelreich, wobei seine Stimme auf fatale Weise an Erich Honecker erinnerte. Auf den knorrigen kahlen Bäumen, die dem Friedhof am Perlacher Forst viel von der Trauer nahmen, die für gewöhnlich Friedhöfe einhüllt, saßen Krähen und unterbrachen in unregelmäßigen Abständen die Ansprache des Predigers.
    Zweihundert Trauergäste mochten es wohl sein, die meisten davon Neugierige und berufsmäßige Beerdigungsgeher, die sich um das offene Grab scharten und die Hälse reckten. In einigem Abstand und hinter einem Baum verborgen, Wolf Ingram, der Leiter der Sonderkommission Schlesinger.
    Von Berufs wegen ging Ingram nicht ungern auf Beerdigungen. Nicht dass er, wie in schlechten Filmen, erwartet hätte, dem Mörder am Grab des Opfers zu begegnen, aber, pflegte er zu sagen, man riecht ihn irgendwie. Was seinen Geruchssinn betrifft, sah sich Ingram diesmal getäuscht: Obwohl er jeden einzelnen Trauergast, so weit das aus sicherer Entfernung überhaupt möglich war, musterte, entdeckte er kein Gesicht, das zur Erhellung des Falles beigetragen hätte.
    Nach einer halben Stunde und den üblichen Gebeten, welche – Gott weiß warum – alle mit dem stereotypen Satz ›von Ewigkeit zu Ewigkeit‹ endeten, zerstreute sich die Trauergemeinde, Priester und Journalisten, letztere im Laufschritt, der Rest in getragener Haltung. Stille kehrte ein. Über die hohe Mauer der nahen Justizvollzugsanstalt hörte man ab und zu unverständliche Kommandos.
    Interessiert betrachtete Ingram die Bouquets und Kränze am Rande des Grabes und die goldbedruckten Schleifen, auf denen Verbände und Mitarbeiter, Verwandte und Freunde sowie diverse Damen dem Toten einen letzten Gruß entboten. In der Absicht, die Namen zu notieren, zog er einen Schreibblock aus der Tasche, als er hinter sich eine Stimme vernahm: »Na, immer im Dienst? Tüchtig, tüchtig!«
    Ingram wandte sich um: »Sie hätte ich hier zuallerletzt erwartet, Herr Staatsanwalt. Treibt Sie das schöne Wetter aus Ihrer tristen Schreibstube?«
    Markus Renner blickte abweisend, wobei ihm, der die Schauspielkunst nicht gerade zu seinen Begabungen zählte, das Funkeln seiner Brillengläser zu Hilfe kam. »Und Sie?«, fragte er zurück, »was führt Sie hierher?«
    Ingram hob die Schultern. »Bei uns in Bayern sagt man: eine schöne Leich', wenn eine Beerdigung großen Zulauf findet.« Er spielte damit auf Renners Herkunft aus dem Norden Deutschlands an, wo man bayerischen Redensarten oft mit Unverständnis begegnet.
    »Ja und? Ist Ihnen etwas aufgefallen, was uns weiterhelfen könnte?«, drängte Markus Renner.
    »Ehrlich gesagt, nein, Herr Staatsanwalt. Ich bin gerade dabei, mir die Namen auf den Kränzen zu notieren. Man weiß nie …«
    In diesem Moment fasste Renner den Kommissar am Ärmel und zog ihn auf die rechte Seite des Grabes, wo sich ein Berg von Kränzen türmte. Er bückte sich und glättete mit der Hand eine lilafarbene Schleife, die an einem Kranz aus orangeblauen Strelitzien befestigt war. Goldene Buchstaben formten die Worte: REQUIESCAT IN PACE – IND.
    »Was sagen Sie jetzt?«, fragte Renner mit jener Arroganz, die ihn so unbeliebt machte. Und im selben Tonfall fügte er hinzu: »Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, das zu entdecken!«
    Ich weiß, wollte Ingram antworten, deshalb stehe ich ja hier und wollte gerade alle Aufschriften der Schleifen notieren; aber er sah nicht ein, warum er sich vor dem übereifrigen, jungen Spund rechtfertigen sollte. Deshalb überging er die Bemerkung und meinte: »Das ist ja ein dickes Ei.«
    Renner ließ nicht locker. »Wissen Sie, was die Aufschrift bedeutet? Sie können doch Latein?«
    »Wenn ich Latein könnte«, geiferte Ingram zurück, »müsste ich mich nicht auf Beerdigungen fremder Leute herumdrücken, sondern wärmte meinen vom vielen Sitzen runzeligen Hintern in irgendwelchen

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