Die Akte Golgatha
»Vergessen Sie nicht, dass ich an der Aufklärung dieser ganzen unerfreulichen Angelegenheit genauso interessiert bin wie Sie.«
Gropius war froh, seiner gewohnten Umgebung für zwei Tage zu entfliehen. Er hatte im ›Adlon‹ ein Zimmer gebucht und sich vorgenommen, am Abend in die Oper zu gehen. Er brauchte einfach etwas Ablenkung.
Die Mittagsmaschine von München nach Berlin-Tegel war nur zur Hälfte ausgebucht und der sonnige Flug über dem Nebelmeer, das den Norden Deutschlands schon seit Tagen einhüllte, angenehm. Auf der Fahrt vom Flughafen nach Berlin-Mitte erfuhr Gropius vom Taxifahrer, einem typischen Berliner, der sein Herz auf der Zunge trug, alles, was einen Mann seines Standes aufregte, die hohen Mieten trotz Tausender leer stehender Wohnungen, die endlosen Umleitungen und dass die Stadt eigentlich Pleite war.
Im ›Adlon‹, der besten Adresse der Stadt, bezog Gropius ein Zimmer im fünften Stock mit Blick auf das Brandenburger Tor, das nach jahrelanger Restaurierung in lichtem Ocker erstrahlte. Vom Room-Service ließ er sich ein Clubsandwich kommen und einen Kaffee, in einem gemütlichen Ohrensessel döste er noch eine halbe Stunde vor sich hin und ging im Kopf noch einmal seinen Plan durch, den er sich für die Begegnung mit dem Professore de Luca zurechtgelegt hatte. Dann begab er sich in die Hotelhalle im Erdgeschoss, eine gewöhnungsbedürftige moderne Konstruktion mit einem Zwischengeschoss und einer großen Glaskuppel, die an Jugendstil erinnerte. Gropius nahm linker Hand vor der Rezeption an einem der kleinen Tische in einem lilafarbenen Sessel Platz, von wo er einen direkten Blick zum Eingang hatte, und wartete, was geschehen würde.
Eine Viertelstunde, längst war es 16 Uhr, geschah nichts. Gropius beobachtete das Kommen und Gehen, bekannte und unbekannte Gesichter, Schauspieler, Fernsehleute und Nobodys mit dicker Brieftasche. Mit freundlichem Lächeln bahnte sich ein weiblicher Page in dunkelroter Livree und Pillbox auf dem glatten Blondhaar den Weg durch das Foyer. Das Mädchen trug Handschuhe und ein Schild mit einem Messingrahmen. Gropius sprang auf: Auf dem Schild stand in Kreideschrift zu lesen: ›Herr Schlesinger, bitte‹.
Also hatte de Luca noch nicht von Schlesingers Tod erfahren, und ihm, Gropius, oblag es, ihn darüber zu unterrichten. Er meldete sich bei der Rezeption: »Sie suchen Herrn Schlesinger?«
Mit einer einladenden Handbewegung zeigte der Concierge auf eine dunkelhaarige Dame mit randloser Brille neben ihm am Empfangstresen. Gropius konnte seine Verwirrung nicht verbergen; aber noch bevor er irgendetwas sagen konnte, kam ihm die Dame zuvor und trat ihm mit den Worten entgegen: »Herr Schlesinger? Mein Name ist Francesca Colella. Ich komme im Auftrag von Professore de Luca. Der Professore hielt es für besser, nicht selbst zu erscheinen. Er lässt sich entschuldigen und sendet Ihnen beste Grüße.«
Einen kurzen Augenblick zögerte Gropius, ob er sich als Schlesinger ausgeben sollte; aber dann kamen ihm Bedenken, vor allem sah er keinen vernünftigen Grund für ein solches Versteckspiel, und er sagte: »Verzeihen Sie, aber mein Name ist Gropius. Ich komme im Auftrag Schlesingers.«
Die Italienerin blickte ernst. Die Situation gefiel ihr gar nicht. Schließlich erwiderte sie in vorzüglichem Deutsch, aber mit unüberhörbarem italienischem Akzent und einer gewissen Strenge: »Ich hoffe, Sie haben Vollmacht.«
Diese Worte machten Gropius stutzig, in Unruhe versetzt wurde er jedoch, als sie Platz nahmen. Es waren weniger die makellosen Beine der Signora als die Tatsache, dass sie mit der Linken einen schwarzen Aktenkoffer hielt, der mit einer Kette an ihrem Handgelenk befestigt war.
»Ich brauche keine Vollmacht«, erwiderte Gropius mit gespielter Gleichgültigkeit, und weil es ihm gerade einfiel, fügte er hinzu: »Ich bin Schlesingers Schwager und sein bester Freund.«
Die Signora nickte, dann hielt sie inne und fragte: »Was ist das, ein Schwager?«
»Ich bin der Bruder von Schlesingers Frau.«
»Ah, cognato !«
Gropius' Italienisch reichte gerade für drei Tage Florenz oder fünf Tage Rom, und da kam der Begriff cognato nicht vor. Aber um die unangenehme Situation zu beenden, meinte er zustimmend: »Ja, ja, cognato . Hat Arno Schlesinger nie von mir erzählt?«
Francesca Colella legte die gepflegten Finger ihrer rechten Hand auf die Brust, und mit übertriebener Geste, wie sie nur Italienerinnen eigen ist, sagte sie: »Ich kenne Herrn Schlesinger gar
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