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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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zu tun als mit lebenden Menschen. Sie sind der erste lebende Mensch seit Tagen. Ich kann bald als Ausgräber in den Nahen Osten gehen. Sie sollten sich damit abfinden, dass die Beschlagnahme der Akten ein Schuss in den Ofen war.«
    »Es war ein Versuch.«
    »Ein Versuch!«, wiederholte Ingram verbittert. »Dieser Versuch kostete uns eine halbe Woche! Der Fall Schlesinger zeigt von Anfang an so ungewöhnliche Merkmale, dass auch der Lösung nur mit ungewöhnlichen Mitteln beizukommen ist.«
    »Also, was schlagen Sie vor?«, fragte Renner überheblich.
    Ingram nickte, als wolle er sagen: Ja, das wüsste ich auch gern. Aber er antwortete nicht.
    »Sehen Sie«, erwiderte Renner arrogant, nahm seine Brille ab und begann die Gläser mit einem weißen Taschentuch zu polieren. »Sehen Sie«, wiederholte er triumphierend.
    Ingram ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder und fixierte den Bildschirm seines Computers, ein Modell, das bereits der Vergangenheit angehörte. Plötzlich fuhr er hoch, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen, er beugte sich vor und las auf dem Bildschirm die eingegangene E-Mail:
    »BND – SIGINT, Abt. 5 an Soko Schlesinger, Wolf Ingram – Heute Morgen um 6 Uhr 50 wurde folgende E-Mail mit dem Code IND ausgefiltert, Absender eine Nebenstelle des Münchner Klinikums. Zieladresse Spanien, Näheres nicht feststellbar. Wortlaut: ›Leider sind unsere Pläne gescheitert. Akten und Dokumente in falschen Händen. Jetzt ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Erbitte neue Anweisungen. IND.‹«
    Ingram warf Renner einen undefinierbaren Blick zu, dann drehte er den Bildschirm zu ihm hin.
    Nachdem er die Nachricht gelesen hatte, legte der Staatsanwalt die Stirn in Falten, und mit dem ihm eigenen Ton von Überheblichkeit meinte er: »Ingram, jetzt sind Sie und Ihre Mannschaft gefordert. Na dann viel Glück!«
    Ingram, ein sonst eher zurückhaltender, höflicher Mann, auch wenn man bei ihm diese Eigenschaften nicht unbedingt vermutet hätte, wurde blass. Und Murau, der ihn besser kannte als jeder andere seiner Kollegen, wartete ängstlich auf eine Reaktion Ingrams. Er wusste, was es zu bedeuten hatte, wenn Ingram bleich wurde wie ein Waschbecken der Bahnhofstoilette, und auch diesmal war es nicht anders.
    »Junger Herr«, begann Ingram in Anspielung auf das jugendliche Alter seines Gegenübers leise, um sogleich heftiger fortzufahren: »Seit Bildung der Soko vor zehn Tagen reißen wir uns hier den Arsch auf, um uns langsam an eine Lösung des Falles heranzutasten. Wir haben das halbe Klinikum auf den Kopf gestellt, in alten Matratzen gewühlt, Schränke ausgeräumt und Abfallbehälter durchsucht. Wir alle, die wir hier sind, können Karbol nicht mehr riechen. Wir haben«, er zog fünf dicke Aktendeckel aus seinem Schreibtisch und knallte sie vor Renner auf den Tisch, »wir haben fast zweihundert Angestellte der Klinik überprüft, die unter Umständen Hinweise auf das Verbrechen geben konnten. Wir haben den Weg des Spenderorgans von der Entnahme in Frankfurt bis zum Augenblick, als es Schlesinger eingepflanzt wurde, minutiös rekonstruiert, mit jedem gesprochen, der mit der Organbox in Berührung kommen konnte. Und da kommen Sie frisch rasiert und in Ihrem Boss-Mäntelchen und wollen mir sagen: Jetzt sind Sie gefordert! Was glauben Sie, was wir in den vergangenen zehn Tagen gemacht haben, während Sie Ihre Akten von einer Seite des Schreibtischs auf die andere geschichtet haben? Dieser Fall ist nun einmal höchst außergewöhnlich und mit keinem anderen vergleichbar. Und wenn wir ehrlich sind: Bisher wissen wir eigentlich gar nichts, nichts, außer dass ein Mann auf seltsame Weise umgebracht wurde, ein Mann, den man auch mit weniger Aufwand und Risiko hätte beseitigen können. Und jetzt lassen Sie uns in Ruhe, wir haben zu tun!«
    Während Ingrams Mitarbeiter um den Staatsanwalt einen Halbkreis bildeten und die Schelte feixend verfolgten, stand dieser da wie ein begossener Pudel. Aber kaum hatte Ingram geendet, ergriff er seinen Aktenkoffer, drehte sich um und stampfte zur Tür. Bevor er sie hinter sich zuknallte, sagte er leise und mit gepresster Stimme, die seine innere Erregung verriet: »Das wird noch ein Nachspiel haben! Ich bin Staatsanwalt und kein dummer Schuljunge!«
    Das Haus in der Hohenzollernstraße hätte dringend eines neuen Anstrichs bedurft. Man konnte die gelbe Farbe, mit der es vor Jahrzehnten gestrichen wurde, nur noch ahnen. Um die Fenster herum, die von breiten Lisenen eingerahmt

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