Die Akte Golgatha
wurden, bröckelte der Putz. Kurz, es war keine sehr feine Adresse, die Gropius an diesem Donnerstag aufsuchte; aber hier wohnte Lewezow.
Sein Namensschild, von einer Visitenkarte ausgeschnitten und neben den Klingelknopf geklebt, fand der Professor ganz oben über etwa dreißig Knöpfen auf dem Klingelbrett. Es gab auch keine Sprechanlage, und so machte er sich auf den Weg, acht ausgetretene Treppen nach oben, ein klammes Treppenhaus, die Wände mit brauner Ölfarbe gestrichen, scharfkantige Messingschrauben auf dem Geländer, damit niemandem in den Sinn kam, es als Rutschbahn zu missbrauchen.
Als Gropius im vierten Stock auf den Klingelknopf drückte, erklang hinter der Wohnungstür, die schon den Ersten Weltkrieg überstanden und in Kopfhöhe ein schmales Milchglasfenster hatte, der Türgong mit der Melodie ›An Elise‹ – ein Phänomen übrigens, weil zwei Drittel aller Türgongs in Deutschland Besucher mit dieser Melodie ankündigen, deren Titel jedoch kaum einer kennt.
Lewezow hatte Gropius erwartet. Die kleine Wohnung bestand aus zwei ineinander übergehenden Räumen mit schrägen Wänden und zwei Mansardenfenstern zum Hinterhof und war voll gestellt mit originellem Mobiliar, wie es auf Flohmärkten im Münchner Osten zum Verkauf angeboten wird. In einem Ohrenbackensessel, dessen Höhe einen ausgewachsenen Mann mit Hut überragte, nahm Gropius Platz und begann ohne Umschweife.
»Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, komme ich auf Ihr Angebot zurück, für mich zu arbeiten.«
»Das freut mich, Professor!« Lewezow, trotz fortgeschrittener Tageszeit in einem seidenglänzenden roten Morgenmantel und passendem blaugepunktetem Schal, machte eine kleine Verbeugung. »Wenn ich Ihnen behilflich sein kann – hier eine Liste meiner Aufwandsentschädigung.«
Gropius schenkte der Preisliste keine Beachtung, er faltete das Blatt in der Mitte und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden. Aus der Innentasche zog er ein anderes Papier hervor und schob es zu Lewezow über den hochbeinigen Tisch. »Das ist eine Warteliste von etwa dreihundert Menschen, die auf eine Spenderleber warten. Ich bitte Sie, diese Liste höchst vertraulich zu behandeln. Mir ist bewusst, dass wir uns hier etwas außerhalb der Legalität bewegen. Aber es ist vielleicht die einzige Möglichkeit, den Hintermännern des Transplantationsskandals das Handwerk zu legen.«
Nach Art eines schlechten Schauspielers hob Lewezow abwehrend beide Hände: »Sie können sich auf meine Diskretion verlassen, Professor, und Sie werden zufrieden sein. Was soll ich tun?«
»Das ist, zugegeben, nicht ganz einfach. Es geht zunächst einmal darum, aus dieser Liste jene Leute herauszufiltern, die finanziell in der Lage wären, für eine neue Leber eine halbe Million auf den Tisch zu legen. Ich nehme an, das sind nicht allzu viele. Aber Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin herauszufinden, ob einer von diesen Leuten sich tatsächlich bereits einer Transplantation unterzogen hat, und wenn ja, wo.«
Lewezow presste beide Hände vors Gesicht, als wollte er sich vor dem Professor verstecken. Als er wieder hervorkam, meinte er nachdenklich: »Das ist wirklich keine leichte Aufgabe. Wie lange geben Sie mir Zeit?«
Gropius hob die Schultern. »Es geht mir in erster Linie darum nachzuweisen, dass die Arme der Organmafia bis in unser Klinikum reichen. Dazu genügt ein einziger Patient, der das Geständnis ablegt: Ja, ich habe mir ein Organ gekauft, das mir dort und dort transplantiert wurde.«
»Ich verstehe. Nur …« Dabei rieb Lewezow Daumen und Zeigefinger seiner Rechten aneinander und bekam große Augen. Er gehörte zu jener Spezies Menschen, die beim Thema Geld jede Würde verlieren.
»Ja, selbstverständlich!« Gropius zog einen Umschlag hervor und überreichte ihn Lewezow mit einer gewissen Verachtung im Blick.
»Sehr liebenswürdig«, dienerte dieser, »sehr liebenswürdig!« Ihm war Gropius' herabsetzender Tonfall durchaus nicht entgangen; aber das Leben war kein Zuckerschlecken und hatte ihn gelehrt, solche Tiefschläge zu ignorieren.
»Sie werden das schaffen«, bemerkte Gropius, wobei eher der Wunsch der Vater des Gedankens war. Es klang beinahe wie eine Beschwörung. Im Gehen meinte er: »Den Namen Werner Beck können Sie übrigens von der Liste streichen! Der Fall hat sich erledigt.« Er korrigierte sich: »Den Fall habe ich erledigt.«
Als er vor die Tür des Mietshauses trat, schien die Sonne. Er hatte seinen Geländewagen auf der
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