Die Akte Kachelmann
Forensik gehört, will in Mannheim als Sachverständiger dabei sein. Während in schweizerischen und bei etlichen anderen deutschen Gerichtsverhandlungen Experten für wenige Stunden oder Minuten vorbeischauen, wenn ihr Fachwissen gefragt ist, herrscht im Mannheimer Mammutverfahren für die Gutachter – außer für Hans-Ludwig Kröber – mehr oder weniger Anwesenheitspflicht.
Am neunten Tag soll endlich die Nebenklägerin aussagen, doch tags zuvor fährt die Justiz nacheinander zwei weitere «Beziehungszeuginnen» hinter abgedunkelten Scheiben durch einen Hintereingang ins bunkerartige Landgericht. Lena G. aus Hamburg und Heidi T. aus Zürich verbindet Vieles: Beide verbrachten – ohne voneinander zu wissen – die letzten Weihnachtstage in Kanada. Beide mit Jörg Kachelmann. Die eine mehr, die andere weniger: Während der Angeklagte mit der einen Weihnachten feierte, ließ er die andere mit einer Ausrede sitzen, was beide kränkte, als sie davon erfuhren.
Mit ihrer Enttäuschung über ihren Partner und ihrem Trennungsschmerz gingen sie anders um. Während die eine, Lena G., ihre Trauerarbeit öffentlich vom «Bunte»-Titelblatt leistete, mied die Schweizer Öffentlichkeitsarbeiterin die Öffentlichkeit. Heidi T. meldete sich diskret bei den Ermittlern. In einem Polizeivermerk zu ihrer Aussage heißt es, die Zeugin habe entspannt und ohne zu Zögern Auskunft gegeben. Für Kachelmann empfände sie Ekel und Verachtung. In der Hauptverhandlung kommt sie lockeren Schrittes in den Gerichtssaal. Als würde sie alte Bekannte begrüßen, ruft sie: «Hallo». Dann relativiert die über 40-Jährige im schwarzen engen Einteiler einen Teil ihrer drastischen Einschätzungen Jörg Kachelmanns gegenüber der Polizei, die damals in ihrer großen Enttäuschung entstanden seien. Doch davon bekommt die Öffentlichkeit nichts mit. Bei jeder «Beziehungszeugin» schließt die Kammer die Öffentlichkeit aus. Die Richter wollen die Privat- und Intimsphäre der Frauen und des Angeklagten schützen. Selbst Zeuginnen, die sich in der «Bunten» haben ablichten lassen und die dort ihre Beziehungsgeschichte mit dem Angeklagten preisgaben, schirmt das Gericht ab.
Es gibt aber auch «Beziehungszeuginnnen», die sich erfolgreich dagegen wehren, in den Medien genannt oder gezeigt zu werden. Das gilt für eine ehemalige «Miss DDR» und es gilt für jene Frau, mit der Jörg Kachelmann im Appenzellerland ein Haus geteilt hat. Sie wird in ihrer Aussage, kurz bevor er eine andere heiratet, noch immer zu ihm stehen.
Am Schluss, nach über einem halben Prozessjahr, werden zehn aktuelle und vor allem ehemalige Geliebte ihren meist unfreiwilligen Auftritt vor Gericht gehabt haben. Die Kammer gehe mit «voyeuristisch anmutender Genauigkeit» vor, wird sich der neue Verteidiger Johann Schwenn echauffieren. «Unappetitlich und abstoßend» findet er es. Überhaupt seien die Befragungen all dieser «Selbstanbieterinnen», wie er findet, «irrelevant» – mit Ausnahme jener der Nebenklägerin.
Am 13. Oktober 2010 findet das Warten auf Sonja A. ein Ende. Um 10.39 Uhr tritt sie in den Gerichtssaal. Sie trägt einen schwarzenJeansrock, schwarze Stiefel, eine schwarze Strickjacke und pinkfarbenen Lippenstift. Bevor sie auf dem Stuhl vor dem Richtertisch Platz nimmt, versucht sie zu lächeln.
In ihrem Rücken sitzen acht Gutachter. Auf einer Leinwand können alle im Saal beobachten, wie Sonja A. mit ihren dunkel geschminkten Augen entschlossen geradeaus blickt. Jede kleinste Regung können sie verfolgen, analysieren, interpretieren. Eine Kamera überträgt alles, gnadenlos und gelbstichig. Sie ist frontal auf das Gesicht gerichtet, das noch knochiger wirkt als zum Prozessauftakt.
Auch Jörg Kachelmann betrachtet die doppelte Sonja A., die echte und die auf der Leinwand. Der Angeklagte schaut mit ernsten, irgendwie schweren Augen. Es scheint, als wolle er seine ehemalige Geliebte nicht anstarren, aber auch nicht ignorieren. Ähnlich aktivpassiv hatte der Angeklagte zuvor andere Zeuginnen betrachtet, die noch seine Partnerinnen waren, als er sie zuvor das letzte Mal gesehen hatte.
Sonja A. hat sich erneut ein eng anliegendes Halstuch umgelegt, diesmal ein schwarzes. Sie gibt die Personalien an, welche die meisten bereits kennen: ihren Namen, dass sie 37 Jahre alt ist, ledig, Radiomoderatorin, aus Schwetzingen. Sie zieht die Augenbrauen hoch, als der Vorsitzende Richter auch ihr die Standardfrage stellt, ob sie mit dem Angeklagten verwandt, verschwägert
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