Die Akte Kachelmann
er, der bis dahin nichtrauchend aufgefallen war, das Ehepaar Birkenstock um mehr als eine Roth-Händle.
Reinhard Birkenstock setzte daraufhin alle juristischen Hebel in Bewegung, um den «Beckenbauer der Rechtsmedizin», wie er Brinkmann nannte, doch noch in der Defensive einsetzen zu können. Es nützte nichts.
Zum Verhängnis geworden war dem Duo Birkenstock – Brinkmann eine ihrer kürzeren Eingaben ans Gericht, vier Seiten nur. Als Staatsanwalt Oltrogge im Sommer diese Stellungnahme das erste Mal gelesen hatte, soll er zu einem Kollegen gesagt haben, dass der Gutachter sich damit aus dem Verfahren verabschiedet habe.
Dabei hatte damals im Juni 2010 – aus Sicht der Verteidigung, Brinkmanns und auch Elligers – alles so logisch ausgesehen, zu logisch vielleicht.
Eine Auswertung der gespiegelten Festplatte von Sonja A. hatte nicht nur offenbart, dass die Anzeigeerstatterin exakt ein Jahr vor der angeblichen Tat, am 8. Februar 2009, bereits nach Lena G., ihrer Nebenbuhlerin, gegoogelt hatte. In ihrem Laptop-Speicher fanden sich auch zwei gelöschte Digitalaufnahmen. Ein Unternehmen für forensische Informatik, beauftragt von der Verteidigung, stellte fest: Zwischen der Suche nach Lena G. und dem Entstehen der Bilder waren nur zwei Wochen verstrichen. Das eine Foto sei am 23. Februar 2009 um 9.41 Uhr erstellt worden, das andere 33 Minuten später.
Für die Verteidigung schien die Sache sonnenklar: Irgendwann und irgendwie – vermutlich Anfang 2009, vielleicht weil sie in Jörg Kachelmanns Tasche wühlte – war Sonja A. auf den Namen Lena G. gestoßen. Dann suchte sie im Internet nach ihr. Zwei Wochen späterexperimentierte sie mit Selbstverletzungen, um ihrem untreuen Partner eine Vergewaltigung anzuhängen. Ein Jahr später führte sie den hinterhältigen Plan aus.
Birkenstock legte Brinkmann die gefundenen Aufnahmen samt Zeitangaben vor. Der Rechtsmediziner analysierte sie: Zu sehen sei auf den Fotos zweimal derselbe linke weibliche Oberschenkel mit einer bläulich-grünlichen Verfärbung. Der Kamerawinkel lasse Selbstaufnahmen vermuten. «Zweifellos», so schreibt Brinkmann, handle es sich dabei um Aufnahmen eines Hämatoms «in einer Wachstumsphase». Abbildung 1 sei zuerst gefertigt worden, Abbildung 2 eine gute halbe Stunde später.
Sollte es sich, so Brinkmann, um das linke Bein von Sonja A. handeln, sei etwas interessant: Dass dieselbe Region verfärbt sei wie nach der angeblichen Tat. Es läge deshalb nahe, dass es sich um «eine Art experimentelle Verletzung» handle. Der gesamte Vorgang müsse «mit hoher Wahrscheinlichkeit» an eine «Selbststudie» denken lassen. Die Person habe wissen wollen, wodurch Hämatome entstehen und wie sie sich mit der Zeit verändern. Die Fotos seien, so schließt Brinkmann, «eigentlich ein Beweis dafür, dass die so genannte Tatverletzung gleichermaßen eine experimentelle Verletzung darstellt».
Sonja A. bestritt all dies, als Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge sie daraufhin mit den Bildern und den Folgerungen der Verteidigung konfrontierte. Ein einziges Mal in ihrem Leben nur, beteuerte sie, habe sie sich selbst verletzt: Nachdem Professor Brinkmann behauptet habe, sie habe sich ihre Halsverletzung mit dem Fingernagel selbst zugefügt. Als sie davon hörte, habe sie sich mit dem Fingernagel so fest am Arm gekratzt, wie sie nur konnte. Das Ergebnis sei ein roter Striemen gewesen. Nach eineinhalb Stunden sei er wieder verschwunden gewesen.
Staatsanwalt Oltrogge legte Sonja A. die beiden Aufnahmen ihrer Oberschenkel mit den blaugrünen Flecken vor. Er fragte, wie diese Hämatome entstanden seien. Sie habe diese Bilder selbst gemacht, in ihrem Wohnzimmer, antwortete Sonja A. Wann genau, wisse sie nicht mehr, vielleicht nach Sex mit Jörg Kachelmann oder aber nach einem Gerangel mit ihrem Neffen. Manchmal habe sieKachelmann solche Digitalaufnahmen gemailt. Schon als Kind hätten sie die Selbstheilungskräfte des Körpers fasziniert. Blaue Flecken habe sie immer wieder aufgenommen, um zu sehen, wie sich Verletzungen entwickelten. Später wird sie sagen, die abgebildeten Hämatome könnten auch eine Woche vor der Aufnahme entstanden sein, beim Geschlechtsverkehr mit Jörg Kachelmann im Auto. Oder durch ihren zweieinhalb Jahre alten Neffen, der sehr wild sei.
Solche Möglichkeiten hatte Brinkmann in seinem Kurzgutachten nicht diskutiert. Staatsanwalt Oltrogge warf ihm deshalb in seinem Befangenheitsantrag vor, er habe «auf ein Szenario hingearbeitet, das den
Weitere Kostenlose Bücher