Die Akte Kachelmann
Wünschen seines Auftraggebers» entspreche. Das Gericht schloss sich dieser Auffassung an. Es hielt es für durchaus möglich, dass die Digitalbilder Verletzungen nach Geschlechtsverkehr dokumentierten. Im Gutachten, das die Verteidigung eingereicht habe, so Richter Seidling, liege eine «Überbetonung des eigenen Standpunkts» vor.
Drei Wochen nach dem Ausschluss als Sachverständiger zeigte sich, dass Brinkmann mit seiner These von einer «Verlaufstudie» falsch gelegen hatte. Staatsanwalt Oltrogge hatte einen Informatiker der Polizeidirektion Heidelberg gebeten, zu überprüfen, ob die Aufnahmen der Oberschenkel tatsächlich mit 33 Minuten Zeitunterschied gemacht wurden. Es stellte sich heraus: Die Angaben des Unternehmens für forensische Informatik stimmten nicht. Sonja A. hatte innerhalb von 33 Sekunden zweimal abgedrückt.
Vielleicht erinnert sich Jörg Kachelmann auf seinem ersten Kanada-Flug seit Längerem an solche Begebenheiten aus dem zähen juristischen Ringen in den ersten zwei Prozessmonaten. Manch ein Verhandlungstag war sonderbar verlaufen. Aber der letzte vor der großen Pause war skurriler gewesen als alle vorherigen.
Ganz am Schluss war vor dem Gerichtsgebäude ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa festgenommen worden. Der Prozess war schon unterbrochen, als er mit einem Mikrophon ausgerechnet vor dem Fenster eines Zimmers hantierte, in dem sich, hinter Jalousien,die 5. Große Strafkammer beriet. Der Reporter wollte einen Radiobeitrag sprechen. Doch der Beisitzende Richter Joachim Bock, der ihn erspähte, meinte, der Journalist wolle die Beratungen der Kammer belauschen. Er ließ den Nichtsahnenden verhaften. Die Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet. Sie befragte den Reporter, ließ ihn aber, da unverdächtig, laufen. Mit einem Versuch fand sie zudem heraus, dass Abhören bei geschlossenem Fenster unmöglich war, und stellte das Verfahren ein.
Als letzter Zeuge vor der dreiwöchigen Unterbrechung hatte einer der engsten Mitarbeiter Jörg Kachelmanns beim MDR ausgesagt. Der Unterhaltungsredakteur hatte die Talksendung «Kachelmanns Spätausgabe» betreut. Er hatte auch jene kryptische E-Mail als Kopie erhalten, in der Jörg Kachelmann dem MDR-Fernsehdirektor Wolfgang Vietze mitteilte, er könne keine längere oder andere Sendungen mehr als das Wetter moderieren. Das Gericht zeigte sich sehr interessiert, weshalb der Angeklagte kurz nach der angeblichen Tat in seiner Absage geschrieben haben könnte, er wolle nicht Gefahr laufen, «als Deisler reloaded oder als Heulsuse der Nation oder Schlimmeres in die Geschichte einzugehen». Der Unterhaltungsredakteur versuchte die Botschaft einzuordnen – als harmlos: Kachelmanns Nein zu einer Fortsetzung der Spätausgabe sei nicht überraschend gewesen, es hätte sich abgezeichnet, unter anderem «weil die Quoten dahindümpelten».
Der genaue Inhalt und der Wortlaut der sonderbaren E-Mail-Absage kamen zunächst nicht zur Sprache. Die Schöffen, die meisten Journalisten, die Zuschauer kannten die Zeilen nicht, die sich für den Angeklagten auch nachteilig unvorteilhaft auslegen ließen – bis Reinhard Birkenstock das Wort ergriff und den Text seines Mandanten von A bis Z verlas. Prompt nahmen die Medien die verwirrende Botschaft als belastendes Indiz in ihre Berichterstattung auf. Birkenstock hätte die Nachricht nicht vortragen müssen. Aber er tat es, was Jörg Kachelmann mit ausdruckslosem Gesicht verfolgte.
Es sollte das letzte Mal sein, dass die beiden vor Gericht nebeneinander saßen.
Die Richter erkundigten sich beim MDR-Redakteur, ob er je Anhaltspunkte für psychische Probleme des Angeklagten bemerkt habe. Der Journalist verneinte. Aber, so fügte er hinzu, seit einer Sendung sei ihm bewusst gewesen, «dass was gewesen sein muss.» Jörg Kachelmann sei einmal in Tränen ausgebrochen, als er einen Talk moderierte.
Kaum war der MDR-Redakteur als Zeuge entlassen, beschwerte sich Verteidiger Birkenstock, bei der Kammer: «Sie scheuen keine Mühe, um die Persönlichkeit meines Mandanten auszuleuchten.» Er wolle die «DVD mit dem Heulauftritt» dem Gericht übergeben. Kachelmanns tränenreiche Spätausgabe aus dem Herbst 2004 jedoch dürfte er zu diesem Zeitpunkt kaum im Detail gekannt haben.
In besagter Talksendung war die ostdeutsche Sängerin und Moderatorin Inka Bause zu Gast gewesen. Sie kam auf ihren verstorbenen Vater zu sprechen. Moderator Kachelmann, ihr gegenüber sitzend, erzählte seinerseits, sein Vater sei 1984 gestorben.
Weitere Kostenlose Bücher