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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Mitleid mit uns hat.«
    »Wenn es dir aber nicht gelingt, schwörst du
mir, Raoul, daß du nichts Gewaltsames gegen dich unternimmst,
sondern bis morgen, bis ich mir Geld beschafft habe, warten
willst?«
    »Ich schwöre bei dem Andenken meines
Vaters.«
    Frau Fauvel gab ihm den Schlüssel und führte
ihn zitternd durch das Arbeitszimmer ihres Mannes, die Wendeltreppe
hinab zur Kasse.
    Unterwegs beruhigte sie sich etwas. Das Wunder, das Raoul
erhoffte, war unmöglich: ohne Stichwort war die Kasse nicht zu
öffnen, und selbst wenn – es waren keine 30 000
Frank darin. Frau Fauvel fürchtete nur eins – den
erneuten Verzweiflungsausbruch ihres Sohnes.
    Als sie im Kassenzimmer angelangt waren, stellte Raoul die
Lampe, die er trug, so hoch, daß sie den ganzen Raum erhellte.
Dann trat er an die Kasse und schob die Buchstaben auf den
Drückern bis sie den Namen Gypsy bildeten. Dabei war er von
der Angst gepeinigt, daß Prosper etwa das Stichwort
geändert haben könnte, als er den großen
Geldvorrat verwahrte.
    Als Prospers Freund wußte er genau, wie er mit dem
Schlüssel zu verfahren hatte. Er hatte ihn oftmals nach
Schluß des Geschäfts abgeholt und gesehen, wie er die
Kasse öffnete und schloß, ja, auf sein Bitten zeigte
ihm Prosper das Verfahren genau.
    Und jetzt mit Angst und Herzklopfen führte er den
Schlüssel zur Hälfte ein und drehte, dann schob er
ihn weiter hinein und drehte ein zweites Mal und schließlich
stieß er ihn ganz hinein und drehte zum drittenmal –
die Kasse sprang auf.
    Mutter und Sohn stießen gleichzeitig einen Schrei
aus. Der seine klang wie Triumph, der ihre war ein Schreckenslaut.
    »Schließ zu, schließ zu,«
rief sie außer sich, »laß sein, komm,
komm,« und wie wahnsinnig stürzte sie sich auf Raoul,
umklammerte seinen Arm und zog ihn mit solcher Heftigkeit an sich,
daß der Schlüssel, den er noch in der Hand hielt, aus
dem Schloß an der Schranktür herabglitt, wobei er
einen tiefen Strich durch den Firnis zog.
    Raoul aber hatte schon das Päckchen Banknoten im
untern Fache liegen sehen, er ergriff es hastig mit der linken Hand und
schob es zwischen Weste und Hemd.
    Frau Fauvel ließ seinen Arm los, faltete die
Hände und bat flehentlich: »Ich beschwöre
dich, Raoul, gib das Geld zurück, ich will dir morgen zehnmal
mehr verschaffen, nur das tue nicht, um Gottes willen nicht!«
    Raoul hörte nicht auf sie, mit Gemütsruhe
schloß er die Kasse sorgfältig wieder zu.
    »Raoul, nimm wenigstens nicht mehr als du brauchst,
ich werde es dann auf mich nehmen, meinem Manne sagen...«
    »Komm,« unterbrach er sie, »wir
dürfen nicht länger hier weilen, man könnte
uns überrasche oder der Diener zufällig in den Salon
kommen und sich über unsere Abwesenheit wundern.«
    Frau Fauvel war über Raouls plötzliche
Kaltblütigkeit entrüstet.
    »O, wenn nur André käme, mir
wäre es gerade recht,« rief sie außer sich,
»ich würde ihm alles sagen, damit er nicht etwa
morgen den armen Prosper verdächtigt – nein, einen
Unschuldigen lasse ich nicht opfern – das geht denn doch zu
weit!«
    Sie hatte mit so lauter Stimme gesprochen, daß Raoul
Angst bekam. Wenn ein Bureaudiener in der Nähe wäre
und sie hörte!
    »Komm,« sagte er und ergriff Frau Fauvel am
Arm und versuchte sie fortzuziehen.
    Aber sie sträubte sich und klammerte sich, an einen
Tisch an.
    »Nein, ich gehe nicht früher als bis du das
Geld in die Kasse zurückgelegt hast.«
    Raoul lachte höhnisch auf.
    »Aber begreifst du denn nicht, daß ich mit
Prosper im Einverständnis handle, daß er mich
geschickt hat und die Beute mit mir teilen will?«
    »Das ist nicht wahr, Prosper ist ehrlich.«
    »Ei, bin ich es etwa nicht? Aber wir brauchen
Geld!«
    »Du lügst, Prosper ist unschuldig.«
    »So, also glaubst du wirklich, daß das Geld
nur zufällig in der Kasse war und ich das Stichwort erraten
habe? Nein, meine teure Mutter, dein tugendhafter Prosper hat die
Bankscheine vorbereitet und mir das Stichwort gesagt.«
    Raoul ergriff die Lampe und drängte Frau Fauvel gegen
die Treppe. Die letzte Mitteilung ihres Sohnes hatte sie so
erschüttert, daß sie jeden Widerstand
vergaß. Sie schwankte und Raoul mußte sie
stützen und führen. Oben angelangt, gab er ihr den
Schlüssel, damit sie ihn in die Lade zurücklege. Er
mußte die Aufforderung zweimal wiederholen, sie schien kaum zu
hören, endlich gehorchte sie mechanisch.
    Dann führte er sie in den kleinen

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