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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Liebhabereien und Laster wie ein
Millionär! Als ich dich fand, geliebte Mutter, war es schon zu
spät, die bösen Instinkte waren schon erwacht,
großgezogen. Dir zuliebe wollte ich mich bessern –
ich habe mich oft aufgerafft, aber ach – gerade das neue
ungewohnte Leben war es, das mich berauschte; nach so vielen
Entbehrungen – ich habe sogar gehungert – konnte
ich endlich genießen, und so habe ich den Kopf verloren, mich
wie ein Wahnsinniger von dem Taumel der Vergnügungen
fortreißen lassen.«
    Raoul sprach in tiefster Zerknirschung, und Frau Fauvel
hörte stumm und entsetzt zu und fürchtete den
nächsten Augenblick, der ihr sicher
gräßliches enthüllen würde.
    »Ja,« wiederholte er nach einer Pause,
»ich war wahnsinnig und undankbar, ich habe dich durch meine
Schlechtigkeit unglücklich gemacht, ich muß mich
selber verachten – ich sehe alles ein, aber ach –
jetzt ist es zu spät.«
    »Es ist nie zu spät, ein begangenes Unrecht
zu bereuen und gut zu machen, mein liebes Kind,« sagte Frau
Fauvel.
    »O, wenn ich es könnte, aber es ist nicht
mehr möglich. Ich bereue, ja, aber meine Besserung
hält nicht an – du weißt es ja, Mutter, ich
bin ein schwacher Charakter. Meine Absichten sind immer die besten der
Welt, aber ich handle wie ein Schurke ... O Gott, wohin werde ich noch
geraten!«
    »Sprich, was ist geschehen? Ich will alles
wissen,« sagte Frau Fauvel angstbeklommen.
    Raoul zögerte. Als sie aber weiter in ihn drang, ihr
alles zu gestehen, sagte er mit dumpfer Stimme: »Ich bin
verloren!«
    »Verloren, du!?«
    »Ja, denn ich bin entehrt – durch eigene
Schuld!«
    »O Gott!«
    »Fürchte nichts, Mutter, ich werde den
Namen, den du mir gegeben, nicht in den Schmutz ziehen – ich
habe wenigstens den Mut, meine Schande nicht zu überleben
– und es ist besser, ich verschwinde aus einer Welt, in der
ich mich nur eingeschmuggelt habe. – Hast du nicht meine
Geburt verfluchen müssen? Habe ich dich nicht
unzählige Tränen gekostet? Mutter, ich bin ein
Unglücksmensch und darum ist es am besten ich sterbe.«
    »Du willst sterben, Unseliger?«
    »Ja, Mutter, es muß sein, die Ehre gebietet
es.«
    »Was hast du getan?« fragte sie leise.
    »Etwas Ungeheuerliches, Mutter, ich habe fremdes,
anvertrautes Geld verspielt.«
    »Ist die Summe groß?« '
    »Nicht übermäßig, aber wir
können sie nicht auftreiben. Arme Mutter, habe ich dir nicht
schon dein letztes Schmuckstück entrissen, wie ein
Räuber?«
    »Aber der Marquis ist reich, er hat mir sein
Vermögen zur Verfügung gestellt, ich will sofort zu
ihm fahren ...«
    »Mein Onkel ist verreist und kommt erst in acht Tagen
zurück, ich muß aber heute gerettet werden, oder
– ich bin verloren. Mit zwanzig Jahren hängt man
freilich am Leben, aber, wenn es sein muß – ich bin
vorbereitet ...«
    Und mit diesen Worten zog er den Revolver, den er in der
Tasche hatte, halb hervor, lächelte traurig und sagte:
»Das ist die beste Arznei für mich.«
    Frau Fauvel erschrak.
    »Um Gottes willen, sprich nicht so. Mein Mann wird
bald nach Hause kommen, ich will ihm sagen, ich brauche Geld.
– Wieviel ist es?«
    »Dreißigtausend Frank.«
    »Du sollst sie morgen haben.«
    »Ich brauche sie heute noch.«
    »Heute?« rief Frau Fauvel außer
sich. »Warum bist du nicht früher gekommen, ich
hätte den Kassierer ersucht ... aber jetzt ist er
längst fort.«
    »Die Kasse!« rief Raoul, als wenn ihn
plötzlich ein Gedanke käme. »Weißt
du wo der Schlüssel ist?«
    »Ja.«
    »Nun, dann ...«
    »Sprich nicht weiter, Unseliger!«
    Er warf sich ihr zu Füßen.
    »Mein Leben hängt davon ab, Mutter, soll ich
sterben?«
    Ohne eine Antwort erhob sich Frau Fauvel und holte den
Schlüssel aus der Schreibtischlade. Aber als Raoul danach
greifen wollte, schrak sie wie vor etwas Ungeheuerlichem zusammen.
    »Nein, nein, es ist unmöglich; es kann, es
darf nicht sein.«
    Raoul machte keinen weiteren Versuch. »Du hast
recht,« sagte er traurig. »Ich gehe, lebe wohl,
Mutter und gib mir einen letzten Kuß.«
    »Raoul ... bleibe noch ... Was nützt dir
auch der Schlüssel, du kennst ja das Stichwort nicht
...«
    »Laß es mich immerhin versuchen.«
    »Aber selbst, wenn du öffnen
könntest – André läßt nie
viel Geld in der Kasse.«
    »Laß mich's doch versuchen. Wenn ich wie
durch ein Wunder öffnen kann, und durch ein zweites Geld in
der Kasse ist, dann soll es uns ein Beweis sein, daß Gott

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