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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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und anständig
zu sein. Er begriff Clameran nicht, daß er ohne Not Verbrechen
beging und er haßte und verabscheute ihn immer mehr. Aber dies
sollte das letzte sein, und er nahm sich fest vor, sich dann von Louis
für immer zu trennen.
    Je näher der Augenblick rückte, desto banger
wurde Raoul, und am Abend, als es galt, die Tat zur Ausführung
zu bringen, erklärte er Clameran rund heraus, daß er
außerstande dazu sei.
    »Zum Teufel,« rief Louis,
»fürchtest du dich etwa?«
    »Ja,« bekannte Raoul niedergeschlagen,
»ich bin kein solcher Henker wie du, ich fürchte
mich.«
    Die völlige Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit
Raouls flößte Louis Besorgnis ein. Im letzten Moment
durfte sein kühner Plan nicht an der Torheit eines Knaben
scheitern.
    Louis redete ihm daher begütigend zu, erinnerte ihn
an das Vermögen, das er ihm dann bar ausbezahlen wolle,
versprach ihm noch mehr und sagte schließlich: »Deine
ganze Furcht ist weiter nichts als eine nervöse Anwandlung.
Ein Gläschen Burgunder wird deine matten Lebensgeister wieder
auffrischen.«
    Er ließ Wein kommen und nötigte Raoul zu
trinken. Dieser stürzte rasch einige Gläser des
schweren Weines hinunter, aber die Wirkung blieb aus.
    Die Uhr im Zimmer schlug die achte Stunde.
    »Es ist Zeit,« sagte Louis.
    Raoul wurde aschfahl, seine Zähne klapperten. Er
wollte sich erheben, aber er vermochte es nicht, die
Füße versagten ihm den Dienst.
    Louis runzelte die Stirne und seine Augen schossen Blitze.
Sollten seine Pläne so elend scheitern? Er wollte auffahren,
allein er bezwang sich, er sah ein, daß er jetzt Raoul nicht
reizen durfte, wollte er nicht alles verderben.
    Er stand auf und klingelte, als der Kellner erschien, befahl
er: »Eine Flasche Portwein und eine Flasche Rum.«
    Nachdem der Kellner das Verlangte gebracht hatte, mischte
Louis ein großes Glas und hielt es Raoul hin.
    »Trink,« sagte er.
    Raoul leerte es auf einen Zug. Seine bleichen Wangen
röteten sich, er stand auf, schlug auf den Tisch und sagte
»Nun zum Henker, ich bin bereit! Vorwärts!«
    Clameran fand es für geraten, ihn zu begleiten.
    Als sie auf die Straße traten, verflog aber im Nu die
künstliche Energie, die ihm der Alkohol gegeben. Er schwankte
und Louis mußte ihn stützen und führen.
Raoul glich einem Verurteilten auf dem Wege zum Schafott.
    Clameran dachte: Wenn er nur einmal im Hause drinnen ist, dann
wird sich die Sache ganz von selbst machen. Und laut fragte er:
»Hast du alles wohl behalten, was wir ausgemacht
haben?«
    »Ja, ja.«
    »Und den Revolver ...?«
    »Ich habe ihn in der Tasche – laß
mich.«
    Als sie beim Hause angelangt waren, überfiel Raoul
ein neuer Schwächezustand. Er zitterte und konnte sich kaum
aufrecht halten.
    »Nein,« stieß er hervor,
»es ist zu schändlich, zu feig! Die arme,
unglückliche, gute Frau – ich kann nicht!«
    »Wahrlich,« sagte Clameran
verächtlich, »ich habe mich in dir
getäuscht, weshalb hast du dich in den Handel eingelassen? Wer
keine Courage hat, sollte lieber ehrlich bleiben!«
    Raoul raffte sich zusammen. Er ging die Treppe hinauf und
läutete. Ein Diener öffnete.
    »Ist die Tante zu Hause?« fragte er.
    »Die gnädige Frau ist allein im kleinen
Salon,« antwortete der Bediente.
    Und Raoul trat ein.

19. Kapitel
    Als Raoul in den kleinen Salon trat, war er so bleich und
verstört, blickten seine Augen so irr, daß Frau
Fauvel erschreckt auffuhr: »Um Gottes willen, Raoul, was ist
dir zugestoßen?«
    Bei dem Klang dieser Stimme voll mütterlicher
Äugst und Zärtlichkeit, erbebte der junge
Bösewicht, aber er faßte sich gewaltsam.
    Es muß sein, sagte er sich und begann dann seine
Rolle zu spielen.
    »Was mir geschehen ist, Mutter, frägst du?
... Ein Unglück; aber es wird das letzte sein!«
    »Ein Unglück ...?« stieß
Frau Fauvel zitternd hervor, »o Raoul ...«
    Sie wollte ihn umfassen, aber er drängte sie sanft
zurück.
    »Ich bin deiner unwürdig, Mutter,
berühre mich nicht... Ach, ich weiß ja selbst,
daß ich schlecht bin und trotz aller guten Vorsätze
immer wieder strauchle. – Ach, ich wäre anders
geworden, wenn ich immer dich und meinen edlen Vater gehabt
hätte. Aber meine Kindheit war einsam. Fremde, die sich wenig
um mich kümmerten und mich mir selbst
überließen, waren die Leiter meiner Erziehung. Und so
bin ich mit meinen Trieben aufgewachsen, ich bin ehrgeizig und eitel
und bin namenlos, ich bin arm und habe

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