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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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gebrochen; mühsam schleppte sie
sich heimwärts. Unterwegs begegneten ihr viele Leute aus der
Stadt, alle besprachen die Ereignisse des vorhergehenden Abends und
machten das unglückliche Mädchen zur Zielscheibe
beleidigender Worte oder Blicke. Endlich zu Hause angelangt, erblickte
sie ihre Zofe Milhonne, die sie vor dem Tore erwartete.
    »Kommen Sie schnell, Fräulein, die Frau
Gräfin verlangt nach Ihnen, nehmen Sie sich in acht, sie ist
in furchtbarer Aufregung, es war schon Besuch da und nun ist die
Hölle los.«
    Die Frau Gräfin von Laverberie war
fürchterlich jähzornig und konnte in diesem Zustande
fluchen und wettern, wie ein alter Wachtmeister.
    Ihre intimste Freundin, eine alte boshafte Betschwester, war
schon in aller Frühe gekommen, um unter scheinbarer Teilnahme
der Gräfin die Tagesneuigkeit von Tarascon mitzuteilen.
Natürlich ließ sie es nicht an giftigen Bemerkungen
über die Erziehung junger Mädchen fehlen, so
daß die Gräfin in höchste Wut geriet.
    Ihr erster Gedanke war, daß nun ihre ehrgeizigen
Pläne in betreff einer reichen Heirat Valentines scheitern
mußten und das brachte sie noch mehr auf.
    Als nun ihre Tochter vor ihr erschien,
überschüttete sie diese mit Schmähungen.
    Das junge Mädchen hatte den entsetzlichen Auftritt
vorausgesehen. Sie sagte sich in ihrer Demut, daß die Mutter
recht habe, beugte das Haupt und schwieg.
    Aber gerade das reizte die alte Gräfin.
    »Wirst du nicht antworten?« schrie sie.
    »Was kann ich antworten, Mutter?«
    »Was? das fragst du noch! Daß sie
lügen, die frechen Hunde, die sich zu behaupten erdreisten,
eine Laverberie könne sich vergangen haben!«
    Valentine schüttelte traurig das Haupt.
    »So wäre es denn wahr?« schrie die
Gräfin außer sich.
    »Verzeihung, Mutter, Verzeihung,« stammelte
das junge Mädchen mit gefalteten Händen.
    »Ha, du elende Kreatur, du gestehst also, du wagst
es, um Verzeihung zu bitten, was soviel heißt, als
daß du deine Schuld zugibst! Fast möchte ich
zweifeln, daß du mein leibliches Kind bist! Begreifst du denn
nicht, daß es Dinge gibt, die man niemals und unter keinen
Umständen zugeben darf? Du bist wirklich eine freche,
unverschämte Person, du wagst zuzugeben, daß du einen
Liebhaber hast und errötest nicht einmal?«
    »Erbarmen, Mutter, Erbarmen!«
    »Du verdienst keines! Hast du bedacht, daß
du Schmach und Schande über mich bringst, daß dies
Unglück mein Tod sein wird? Ich habe dich zur Ehrbarkeit
erzogen und du wirfst dich an den ersten besten weg.«
    Dies Wort empörte das demütige junge
Mädchen, sie versuchte zu widersprechen.
    »Ja, du hast recht,« unterbrach sie die
Gräfin, »er war nicht der erste beste, er war der
schlechteste! Unser Feind, ein Elender, der dich absichtlich dem
Gespött preisgegeben hat ...«
    »Das ist nicht wahr, Mutter, er würde mich
geheiratet haben, wenn du nur eingewilligt hättest.«
    »So, hätte er die Gnade gehabt? Nun, ich
sage dir, lieber möchte ich dich noch tiefer sinken, der
Schande ganz verfallen sehen, als je zugeben, daß du einen
Clameran heiratest! Übrigens,« fügte sie
grausam mit boshaft funkelnden Augen hinzu, »dein Geliebter
ist ja ertrunken und den Alten hat der Schlag gerührt, wie ich
gehört habe. – Gott ist gerecht!«
    Das war mehr, als das unglückliche junge
Mädchen ertragen konnte. Mit einem Wehlaut sank sie zu Boden,
im Fallen schlug sie mit der Stirn gegen die Kante eines Ecktischchens
und aus einer tiefen Wunde sickerte das Blut.
    Aber die Gräfin sah ihre Tochter mitleidlos zu ihren
Füßen liegen. Als sie bemerkte, daß
Valentine sich nicht regte, läutete sie und sagte zu den
eintretenden, vor der Gebieterin zitternden Mägden:
»Tragt das Fräulein auf ihr Zimmer, legt sie aufs
Bett und sperrt sie ein, den Schlüssel bringt mir.«
    Die Dienerinnen trugen Valentine fort, aber nach einer Weile
erschien Milhonne und berichtete der Gräfin, daß das
Fräulein zwar zu sich gekommen sei, es aber schlimm mit ihr
stünde.
    Die Gräfin begab sich in das Zimmer ihrer Tochter und
das Aussehen des armen Kindes war wirklich so entsetzlich, daß
die Alte sich bewogen fühlte, den Arzt rufen zu lassen.
    Dr. Raget war nicht nur ein vorzüglicher Arzt,
sondern auch ein edler Mensch, der ganz in seinem Berufe aufging, er
war nicht nur herzensgut, sondern auch ungemein scharfsinnig und
durchschaute die Menschen, als wenn sie aus Glas wären.
    Als er Valentine sah, wurde seine

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