Die Akte Nr. 113
Miene sehr ernst, er heftete
hierauf seine Blicke so durchdringend auf die alte Gräfin,
daß sie sich ganz verwirrt fühlte.
»Ihre Tochter ist sehr krank,« sagte er,
»ich muß sie aber genau untersuchen und bitte daher,
mich einen Augenblick allein zu lassen.«
Der alte Arzt war der einzige Mensch, welcher der
Gräfin imponierte, sie wagte daher nicht, sich ihm zu
widersetzen und ging ins Nebenzimmer.
Bald folgte er ihr. Sein Gesicht war ernst und er schien tief
ergriffen.
»Frau Gräfin,« begann er,
»einer Mutter Herz ist immer voll Güte und Nachsicht,
nicht wahr? Sie werden Fräulein Valentine verzeihen ... sie
befindet sich in gesegneten Umständen.«
»Die Schändliche, die Dirne ...«
»Der Zustand Ihrer Tochter ist nicht
lebensgefährlich, aber ernst,« fuhr der Arzt, ohne
der Unterbrechung zu achten, fort, »die allzu heftigen
Aufregungen haben ihren zarten Organismus erschüttert, sie
fiebert stark, doch wird leibliche und vor allem seelische Ruhe sie
wieder herstellen. An Ihnen ist es, Frau Gräfin, hier helfend
einzugreifen, einige gute beruhigende Worte aus Ihrem Munde werden eine
bessere Wirkung erzielen, als meine Arzneien. Ich mache Sie aber
für das Leben Valentines und ihres Kindes
verantwortlich.«
Der alte Arzt hatte die letzten Worte so eindringlich
gesprochen, daß die Gräfin erschrak, sie
fühlte sich durchschaut.
»Gewiß werde ich mein möglichstes
tun, um Valentine zu pflegen,« sagte sie scheinheilig;
»aber das können Sie doch von mir nicht verlangen,
Herr Doktor, daß ich selber meine Schande
veröffentliche und mich dem Gespötte der ganzen
Gegend aussetze?«
»Ich kann Ihnen natürlich nicht verbieten,
mit Ihrer Tochter Laverberie auf einige Zeit zu verlassen, aber ich
werde Rechenschaft von Ihnen über das Kind fordern. Mehr habe
ich Ihnen vorderhand nicht zu sagen.«
Damit ging er und ließ die Gräfin in einem
Zustande grenzenloser Wut zurück.
Sie haßte den alten Arzt, der sich unterstanden, ihre
geheimsten Gedanken zu erraten und es gewagt hatte, in solchem Tone mit
ihr zu sprechen. Sie haßte Valentine, die schuld war,
daß sie sich diese Demütigung gefallen lassen
mußte und sie zwang, ihren schönen Hoffnungen auf
einen reichen Schwiegersohn zu entsagen!
Und ihre Erbitterung wurde so heftig, daß sie ihrer
einzigen Tochter den Tod wünschte.
Valentine hatte sich nach und nach erholt. Sie sagte sich:
»Gott sei Dank, das Schlimmste ist überstanden, meine
Mutter weiß alles, nun darf ich auf ihre Verzeihung warten und
hoffen.«
Aber eines bereitete ihr schweren Kummer, wie sollte sie
Nachricht von Vater Menoul erhalten, sie konnte nicht daran denken,
hinabzugehen. Der Doktor hatte ihr zwar nach einigen Tagen erlaubt,
aufzustehen, aber sie mußte noch das Zimmer hüten.
Zum Glück war der alte Fährmann ebenso klug,
als er aufopfernd gewesen. Er hatte kaum gehört, daß
das Schloßfräulein krank sei, als er auf Mittel sann,
ihr Nachricht zukommen zu lassen. Ein Vorwand, aufs Schloß zu
kommen, war bald gefunden – er brachte Fische zum Verkauf
– und endlich gelang es ihm einmal, das Fräulein zu
sehen, sie waren nicht allein, aber aus seinen Blicken konnte sie
entnehmen, daß Gaston in Sicherheit war.
Einige Wochen später erklärte der Arzt,
daß Valentine soweit hergestellt sei, um die Anstrengungen der
Reise ohne Schaden für die Gesundheit ertragen zu
können.
Die Gräfin hatte den Augenblick mit
größter Ungeduld erwartet, sie hatte schon alle
Reisevorbereitungen getroffen und allen Bekannten erzählt,
daß sie sich mit ihrer Tochter nach England zum Besuch reicher
Verwandten begeben würde.
Valentine konnte nur mit Schaudern an die bevorstehende Reise
denken; es war ihr noch nicht gelungen, Louis von Clameran wissen zu
lassen, daß sein Bruder noch am Leben sei und nun sollte sie
fort!
Sie entschloß sich also, das Geheimnis einem Briefe
anzuvertrauen und die gute Milhonne, die sich während
Valentines Krankheit bewährt hatte, auf Schloß
Clameran damit zu schicken. Aber das Mädchen kam
unverrichteter Dinge zurück. Herr Louis, den man jetzt Marquis
nannte, hatte die Dienerschaft verabschiedet und war verreist. Im
Schloß wohnte niemand mehr.
Der Tag der Abreise kam, die Gräfin
entschloß sich, Milhonne mitzunehmen, nachdem sie diese bei
der Messe auf das Evangelienbuch hatte ewige Verschwiegenheit
schwören lassen.
In England ließ sich die Gräfin in einem
kleinen
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