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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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durfte nur ganz langsam und allmählich geschehen, denn er
wäre verloren gewesen, wenn ihn die Strömung von der
Seite erfaßt hätte. Er rechnete auf einen Strudel,
der sich in einer Biegung des Flusses unterhalb Clameran befand, und er
täuschte sich nicht, die Strömung trieb ihn in
schräger Richtung dein jenseitigen Ufer zu. Leider aber trug
ihn die Welle nicht bis ans Ufer, sondern riß ihn mit
ungeheuerer Geschwindigkeit am Park von Laverberie vorüber.
    Trotz der rasenden Schnelligkeit hatte er doch die
weiße Gestalt Valentines unter den Bäumen erblickt.
    Erst viel weiter unten gelang es ihm, dem Ufer näher
zu kommen. Zweimal versuchte er, Fuß zu fassen und zweimal
rissen ihn die Wasser zurück. Da ergriff er, ehe eine neue
Strömung ihn erfaßte, einen
überhängenden Weidenzweig und nun endlich gelang es
ihm, sich ans Land zu schwingen – er war gerettet.
    Ohne sich auch nur einen Augenblick Zeit zum Aufatmen zu
gönnen, eilte er, was ihn die Füße nur
tragen konnten, zurück, dem Parke zu.
    Endlich war er da! Und es war die höchste Zeit, denn
Valentine hatte vor Aufregung und Todesangst die Besinnung verloren.
    Gaston fand sie ohnmächtig am Boden liegen, er hob
sie in seinen Armen empor und bedeckte ihr bleiches Gesicht mit
Küssen. Da schlug sie die Augen auf.
    »Gaston, bist du es?« rief sie mit
ausbrechendem Gefühl. »So hat sich Gott meiner
erbarmt und dich mir zurückgegeben!«
    Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr
Köpfchen an seine Brust.
    »Nein, Valentine, Gott hat kein Erbarmen mit uns
...«
    »Was ist geschehen? Sprich; warum hast du dein Leben
aufs Spiel gesetzt ...?«
    »Unser Geheimnis gehört uns nicht mehr,
Valentine; wir sind zum Gespött der ganzen Gegend geworden
– – der blinde Haß, der unsere Familien
entzweit, ist schuld, daß wir unsere heilige Liebe verbergen
mußten und ...«
    »O Gott, verraten, verraten ...!« rief
Valentine tödlich erschrocken.
    »Den Schurken, der deinen angebeteten Namen
verhöhnte, habe ich getötet und darum bin ich
über die Rhone geschwommen. Ich muß fliehen, Geliebte
...«
    Valentine war wie vernichtet.
    »Fliehen, Gaston, wohin?«
    »Ich weiß es noch nicht, ins Ausland, ins
Weite, unter falschem Namen – denn es gibt wohl kein Land,
das einem Mörder Zuflucht gewährte.«
    Valentine war zu erschüttert, um ein Wort
hervorbringen zu können und Gaston fuhr nach einer Pause fort:
»Wenn ich dich in dieser fürchterlichen Stunde noch
einmal sehen wollte, so geschah es, weil ich auf deine Liebe baue. Wir
sind eins in unserem Herzen, eins vor Gott, du bist mein Weib und ich
liebe dich über alles; sag', willst du mich allein fliehen
lassen?«
    »Gaston, ich beschwöre dich ...«
    »O, ich wußte es wohl,« unterbrach
er sie, »du verläßt mich nicht, du gehst mit
mir in die Verbannung, ins Elend! Aber wir werden nicht elend sein,
Geliebte, da wir uns lieben!«
    Er hatte sie heiß umschlungen und wollte sie mit sich
fortziehen. Sie aber machte sich aus seiner Umarmung los und sagte
traurig: »Was du begehrst, ist unmöglich.«
    »Unmöglich?!« stammelte er.
    »Ach, Gaston, du weißt wohl, daß du
mir teurer als das Leben bist; das schlimmste Los an deiner Seite
wäre mir Seligkeit – aber, ich darf der Stimme
meines Herzens nicht folgen, die Pflicht bindet mich hier.«
    »Aber du kannst unmöglich hier bleiben, sie
werden mit Fingern nach dir deuten.«
    »Mögen sie, bin ich plötzlich in
Wirklichkeit eine andere, bin ich schlechter geworden? Die Verachtung
der Menschen wird mir weniger schmerzlich sein, als die
Vorwürfe meines Gewissens.«
    »Aber wenn deine Mutter alles
erfährt?«
    »Der Mutter willen bleibe ich ja, kann, darf ich sie
verlassen – du weißt, sie ist nicht reich, sie ist
einsam und wird um meiner willen von allen gemieden werden –
muß ich da nicht bleiben? – – Wenn sie
alles erfährt, fragst du, Gaston? O, sie wird hart und
unbarmherzig sein, aber – ich habe es verdient, ich kann es
nur in Demut tragen und muß schweigen.«
    »Sprich nicht so, Geliebte, es macht mich wahnsinnig,
wenn ich denken soll, daß du um meinetwillen
Demütigungen ertragen sollst.«
    »Ich werde noch Schlimmeres erdulden
müssen,« sagte sie leise.
    »Was sagst du da? Was meinst du?« fragte er
erregt.
    »Gaston, ich glaube – doch nein, nichts, es
ist Wahnsinn ... Nein, nichts, nichts.«
    Gaston mußte plötzlich sich der letzten
Worte seines Vaters

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