Die Akte Nr. 113
Aber nach und nach
sammelte sie sich und dachte ruhiger über die Sache nach.
Der Brief war offenbar von Gaston, er war nach Frankreich
zurückgekehrt und wünschte sie wiederzusehen. Das war
ja eigentlich ganz natürlich, und von ihm, dem edlen
ritterlichen Mann, hatte sie nichts zu fürchten.
Er würde kommen, sie als Frau und Mutter
wiederfinden, sie würden wehmütige Erinnerungen
tauschen; sie konnte ihm endlich sein Vermächtnis
zurückgeben und dann würden sie mit einem
Händedruck für immer scheiden.
Aber ein Zweifel quälte sie, sollte sie Gaston alles
offenbaren?
Durfte, konnte sie es? Hieß das nicht das
Glück und die Ehre ihres Mannes, ihrer Kinder aufs Spiel
setzen?
Durfte sie aber andererseits jenem armen Kinde, das sie
verlassen, den Vater rauben?
So peinigten sie zwiespältige Gedanken und der
nächste Tag, die gefürchtete Stunde kam heran
– sie war noch zu keinem Entschluß gekommen.
Sie hatte sich im letzten Augenblick gesagt, daß sie
ihn nicht empfangen werde, als es aber zwei Uhr schlug, saß
sie hochklopfenden Herzens im Empfangszimmer und wartete. Wenige
Augenblicke später meldete der Diener den Herrn Marquis von
Clameran.
Sie war so aufgeregt, daß sie sich weder erheben,
noch sprechen, ja, nicht einmal denken konnte.
Er jedoch verneigte sich ehrerbietig und blieb dann ruhig
mitten im Zimmer stehen.
Er mochte ungefähr fünfzig Jahre
zählen, trug einen ernsten, fast traurigen Gesichtsausdruck.
Haupthaar und Schnurrbart waren leicht ergraut. Zitternd betrachtete
ihn Valentine und suchte in seinen Zügen die Erinnerung an den
Mann wiederzufinden, den sie in ihrer Jugend mit voller Hingebung
geliebt hatte. Aber nichts, gar nichts sprach aus seinen Augen zu ihrem
Herzen; in dem gereiften Manne war nichts von dem Jüngling
wiederzufinden.
Sie seufzte, und da er stumm blieb, fragte sie
schüchtern: »Gaston?«
Er schüttelte das Haupt.
»Ich bin nicht Gaston, gnädige Frau. Mein
Bruder ist dem Elend der Verbannung erlegen – ich bin Louis
von Clameran.«
Ein Schauder des Entsetzens schüttelte Frau Fauvel.
Nicht Gaston! Was konnte dieser Bruder von ihr wollen? Sie
wußte, daß Gaston ihm damals kein Vertrauen
geschenkt, ihm ihr Geheimnis nicht anvertraut hatte.
Sie gewann endlich soviel Fassung, um Louis einen Sitz
anzubieten und ziemlich ruhig fragen zu können.
»Darf ich bitten, mir den Zweck Ihres Besuches
mitzuteilen?«
»Vor allem möchte ich mir die Frage
erlauben, gnädige Frau, ob uns hier niemand hören
kann?«
»Warum? Ich glaube nicht, daß Sie mir etwas
zu sagen haben, was mein Mann und meine Kinder nicht hören
dürften?« versetzte sie schroff.
»Es ist nur in Ihrem Interesse,« erwiderte
Louis – »doch wie Sie wünschen.«
Er rückte seinen Sessel näher an Frau Fauvel
heran und fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
»Gnädige Frau, ehe Gaston starb, hat er sich mir
vollständig anvertraut – – Verstehen Sie
mich jetzt? – – Ich will Ihnen nicht die unseligen
Umstände, die so schrecklich in das Leben meines Bruders
eingegriffen haben, ins Gedächtnis zurückrufen. Sie
sind eine reiche glückliche Frau geworden, aber ganz werden
Sie doch den Freund Ihrer Jugend nicht vergessen haben ...?«
Frau Fauvel antwortete nicht.
»Ist Ihr Gedächtnis wirklich so schwach
geworden?« fuhr Louis fort, »muß ich Sie
erst daran erinnern, daß mein unglücklicher Bruder
Sie geliebt hat, daß Sie seine Gefühle
erwiderten?«
»Sie scheinen zu vergessen, mit wem Sie sprechen, ich
bin Frau und Mutter ... Wenn Ihr Bruder mich geliebt hat, so ist das
sein Geheimnis und an Ihnen ist es nicht, mich an die Vergangenheit zu
erinnern, er würde das nicht getan haben ... Für mich
ist die Vergangenheit tot ...«
»So haben Sie alles vergessen?«
»Ja, vollständig.«
»So? Auch Ihr Kind?«
Diese Frage traf die unglückliche Frau wie ein
Schlag. Woher wußte er ...? Aber sie sagte sich, sie
dürfe sich keine Blöße geben, das
Glück und die Ehre ihrer Kinder, ihres Mannes stünden
auf dem Spiele.
Mit einer Willenskraft, der sie sich selber kaum für
fähig gehalten, faßte sie sich und entgegnete mit
Würde: »Ich glaube, Sie wollen mich beschimpfen, Herr
Marquis.«
»Sie erinnern sich also auch nicht mehr an Raoul ?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ihr Leugnen hilft nichts, gnädige Frau, ich
sagte Ihnen ja schon, daß ich alles weiß. Soll ich Ihnen den Beweis geben? Hören Sie: Vor
zwei Jahren kam
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