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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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mein Bruder nach London, dort begegnete er in einer
Familie einem Jüngling, namens Raoul Wilson. Der junge Mann
gefiel ihm so gut, daß er Erkundigungen über ihn
einzog und schließlich in Erfahrung brachte, daß er
seinen eigenen Sohn vor sich habe.«
    »Was habe ich mit diesem Roman zu schaffen?«
    »War ich noch nicht deutlich genug? Ihre Mutter, die
Gräfin von Laverberie, war zwar sehr vorsichtig, sehr klug,
aber der Zufall enthüllte das Geheimnis. Eine der Freundinnen,
die Ihre Mutter in London hatte, wollte sie in dem Dorfe, das Sie
bewohnten, besuchen, Sie waren schon abgereist, aber die Dame hatte vor
der Frau, bei der das Kind in Pflege war, Ihren wirklichen Namen
genannt, und so kam die Geschichte ans Licht. Gaston hat sich
untrügliche Beweise verschafft und hat seinen Sohn
anerkannt.«
    »Ich weiß in der Tat nicht, Herr Marquis
–«
    »Bitte, hören Sie mich noch an, ich bin
gleich zu Ende. Mein Bruder ist im Elend gestorben, die Sorge um die
Zukunft Raouls verdüsterte seine letzten Stunden, da vertraute
er sich mir an und bat mich, zu Ihnen zu gehen, an Ihr Herz zu
appellieren –«
    Valentine erhob sich, sie wollte ein Ende machen.
    »Sie werden mir zugestehen, daß meine Geduld
groß ist.«
    Louis war von ihrer unerschütterlichen Ruhe so
verblüfft, daß er keine Antwort fand.
    »Ich bekenne Ihnen,« fuhr sie fort,
»daß ich ehemals allerdings das Vertrauen Ihres Herrn
Bruders besaß, er übergab mir vor seiner Abreise den
Schmuck der Frau Marquise, Ihrer Mutter, und den will ich Ihnen
übergeben.«
    Bei diesen Worten zog sie unter dem Diwankissen den Beutel,
der den Schmuck enthielt, hervor und reichte ihn Louis.
    »Es wundert mich nur,« fügte sie
hinzu, »daß Gaston dies Vermächtnis nicht
von mir zurückverlangte.«
    Obgleich Louis ungeheuer überrascht war,
besaß er doch genug Selbstbeherrschung, um sich nicht zu
verraten.
    »Ich hatte den Auftrag,« versetzte er,
»nicht davon zu sprechen.«
    Frau Fauvel fand zwar, daß das keine Antwort auf ihre
Bemerkung war, doch sagte sie darüber nichts, sondern streckte
die Hand nach der Klingel aus.
    »Sie werden begreifen, Herr Marquis, daß ich
eine Unterredung abbreche, die ich überhaupt nur in der
Absicht zuließ, um Ihnen den Familienschmuck
einzuhändigen.«
    »Gut, ich gehe, aber ich bitte Sie, gnädige
Frau, die letzten Worte, die mir mein Bruder auf dem Totenbette sorgte,
zu beherzigen: Wenn Valentine sich weigern sollte, die Zukunft Raouls
zu sichern, dann befehle ich dir, sie dazu zu zwingen. Ich habe
geschworen und – bei meiner Ehre – ich werde den
Schwur halten!«
    Damit verbeugte er sich und ging.
    Es war die höchste Zeit. Frau Fauvel hatte kaum mehr
die Kraft, sich aufrecht zu halten, und als sie sich endlich allein
sah, brach sie zusammen.
    Ihre Verzweiflung war fürchterlich; ihre schlimmsten
Befürchtungen waren zur Wirklichkeit geworden, der Abgrund tat
sich vor ihr auf und ach, die ihr die liebsten waren, sollten mit ihr
ins Verderben gerissen werden, und büßen, was sie
nicht verschuldet!
    Nur Gott allein konnte sie retten und im inbrünstigen
Gebete flehte sie um Erbarmen für ihren guten Mann,
für ihre unschuldigen Kinder.
    Ach, für sie gab es keine Hoffnung mehr, Clameran
würde wiederkommen – was dann?
    Sie erschauderte bei dem Gedanken.
    Freilich, den armen verlassenen Knaben hätte sie
gerne dem Elend entrissen, aber konnte, durfte sie Clamerans
Vermittlung annehmen?
    Der Mann flößte ihr Widerwillen,
Mißtrauen ein. Seine Erzählung war
lückenhaft und unwahrscheinlich. Warum hatte Gaston, wenn er
in Paris gewesen und mittellos war, nicht den Schmuck von ihr
zurückgefordert, wenn schon nicht für sich, so doch
für das Kind, und warum hat er sich nicht selbst an sie
gewendet, warum hatte er erst auf dem Totenbette ihrer gedacht?
    Nein, Louis von Clameran war nicht vertrauenswürdig
und – das fühlte sie deutlich – ein einzig
unbedachter Schritt würde sie ganz in seine Hände
geben, sie ihm für immer ausliefern.
    Einen Augenblick dachte sie daran, sich ihrem Manne zu
Füßen zu werfen und ihm alles zu gestehen, aber
leider führte sie diesen rettenden Gedanken nicht aus, sie
stellte sich seinen Schmerz vor, wenn er nach zwanzig Jahren erfahren
sollte, daß er hintergangen worden, sie sah ihr
glückliches Familienleben für immer zerstört
– nein, nein, sie konnte nichts sagen, mußte alles
allein tragen, versuchen, das Schreckliche

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