Die Akte Nr. 113
Aussagen
der Leute, die die Gräfin Laverberie gekannt haben. Es fehlt
nichts. Nur mit Mühe habe ich dem Marquis die Dokumente
entrissen, er wollte sie mir nicht lassen – vielleicht
fürchtete er, was ich mit ihnen beginnen will. Und sehen Sie,
gnädige Frau, was ich mit den Beweisen tue ...«
Und mit rascher Bewegung warf er die Papiere in die Flammen
des Kamins.
»Nun sind sie vernichtet,« sagte er.
»Die Vergangenheit ist ausgelöscht, gnädige
Frau – es gibt keine Beweise mehr – Sie sind
frei!«
Frau Fauvel fragte sich zuerst, was dies bedeuten solle, aber
plötzlich kam es über sie wie eine Erleuchtung. Der
Jüngling, der ihre Ehre rettete, ihr ihre Willensfreiheit
wiedergab, war niemand anderes als ihr verlassener Sohn!
Da vergaß sie alles; das lang
zurückgedrängte Muttergefühl brach sich Bahn
und mit tränenerstickter Stimme flüsterte sie
»Raoul ...!«
»Jawohl, Raoul,« rief er, »Raoul,
der tausendmal lieber sterben, als seiner Mutter den leisesten Schmerz
bereiten möchte, der all sein Blut vergießen
würde, um ihr eine einzige Träne zu
ersparen!« Überwältigt breitete sie die Arme
nach ihm aus, er sank an ihre Brust und flüsterte:
»Mutter, teuere Mutter, hab' Dank, tausend Dank!«
Frau Fauvel war auf einen Stuhl gesunken; sie war von dem
Glücke, ihren Sohn gefunden zu haben, erschüttert, er
kniete zu ihren Füßen nieder, und sie betrachtete ihn
mit einer an Andacht grenzenden Liebe.
Wie schön er war! Sein goldbraunes Haar war fein und
lockig wie Seide, seine Stirn weiß und rein, wie die eines
jungen Mädchens und aus seinen großen wunderbaren
Augen leuchtete Verstand und Herzensgüte. Und dieser herrliche
Jüngling war ihr Sohn, gehörte ihr!
»O Mutter,« sagte er, »du
weißt nicht, wie mir war, als ich erfuhr, daß der
Onkel dich bedrohte, dich, geliebte Mutter! – Glaube mir, als
mein Vater dem Onkel befahl, sich an dich zu wenden, war er nicht mehr
bei klarem Bewußtsein – er war so edel, so gut. Oft
schweiften wir in der Nähe deines Hauses herum und wenn wir
dich erblickt hatten, waren wir glücklich. Er sprach immer nur
von dir und lehrte mich dich lieben.«
Valentine vergoß Tränen der Rührung
und Freude, sie vergaß ihren Gatten, ihre beiden
Söhne und versenkte sich ganz in den Anblick des
schönen Jünglings, der in ihr die holde Erinnerung an
ihre Jugendliebe wachrief.
Raoul aber fuhr fort: »Erst seit gestern
weiß ich, daß der Onkel einige Brosamen deines
Überflusses für mich verlangt hat. Aber ich will
nichts, Mutter, hörst du, ich will nichts. Wenn ich auch arm
bin, so besitze ich doch Jugend und Gesundheit, ich kann und will
arbeiten und werde mir den Lebensunterhalt schon verdienen. Von dir,
geliebte Mutter, begehre ich weiter nichts, als daß du mir ein
Plätzchen in deinem Herzen gönnst.«
Frau Fauvel war von soviel Edelsinn gerührt; sie
streichelte sein Haar, küßte seine Stirne und nannte
ihn ihr liebes, liebes Kind. Dann begehrte sie seinen ganzen Lebenslauf
zu kennen, und er erzählte, wie die Bauersfrau, der er
übergeben worden, ihn lieb hatte und ihm eine Erziehung
über ihren eigenen Stand angedeihen ließ. Er
erzählte, daß er mit sechzehn Jahren eine Stelle bei
einem Bankier erhalten hatte, dort sei eines Tages ein Herr erschienen,
der sich ihm als sein Vater zu erkennen gegeben und ihm mit sich
genommen habe.
Die Mutter hörte mit Begier zu, sie wollte immer mehr
wissen, alle Einzelheiten seines Lebens kennen.
Die Zeit verging. Da plötzlich schlug die Uhr sieben.
Valentine erschrak, wie leicht konnte ihre lange Abwesenheit bemerkt
worden sein. Sie erhob sich.
»Werde ich dich wiedersehen, Mutter?« fragte
er angstvoll.
»Gewiß, mein Kind,« rief sie
zärtlich, »täglich, morgen schon.«
»O, tausend Dank, geliebte Mutter,« sagte er
und küßte ihre Hände.
Sie zog ihn an ihr Herz.
»Lebewohl, mein süßes Kind, auf
Wiedersehen.«
Sie kam in großer Erregung nach Hause und es fiel ihr
schwer, ihre Gefühle zu verbergen, sich zu bemustern. Sie war
froh, als endlich die Abendmahlzeit zu Ende war und sie sich, unter dem
Vorwande, Kopfschmerzen zu haben, auf ihr Zimmer zurückziehen
konnte. Sie schloß sich ein und durchlebte im Geiste noch
einmal die vergangenen Stunden.
Sie hatte ihr armes, verlassenes Kind wiedergefunden! Und es
war nicht verkommen, es war vielmehr zum herrlichsten Jüngling
geworden, schön, edel und gut! Arbeiten wollte er, um
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