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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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wissen!« rief die Alte. »Nein, Ihr
Bruder ist nicht ertrunken, er hat sich gerettet, ist über die
Rhone zu meinem Fräulein geschwommen; die Komtesse war am
nächsten Tag in Clameran, um es Ihnen zu sagen, aber der alte
bärbeißige Kammerdiener ließ sie nicht vor.
Später sollte ich Ihnen einen Brief bringen, aber da waren Sie
schon verreist.«
    Louis war von diesen Enthüllungen wie
niedergeschmettert.
    »Sie träumen wohl,« versuchte er
abzuwehren.
    »Ich sehe, der Herr Marquis hält mich
für verrückt, ich bin es aber nicht; wenn der alte
Schiffer Menoul noch am Leben wäre, könnte er Ihnen
erzählen, wie er Gaston in seinem Kahne bis zur
Rhonemündung nach Camargue geführt hat, und wie der
junge Herr von da nach Marseille entkam. Aber – das ist noch
nicht alles: Ihr Bruder hat einen Sohn!«
    »Einen Sohn!« rief Louis. »Ich
glaube, meine gute Frau, Sie faseln!«
    »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich
nicht verrückt bin. Was ich Ihnen da mitteile, ist die volle
Wahrheit, und ach, mein Unglück in diesem Leben und, wenn Gott
nicht barmherzig ist, auch im jenseitigen. Fräulein Valentine
hat einen Sohn geboren und sie mußte das arme unschuldige Kind
fremden Leuten ausliefern.«
    Louis war starr vor Überraschung und Milhonne
erzählte ihm die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten, von
dem Zorn und der Grausamkeit der Gräfin, dem Leiden der armen
Valentine. Sie nannte ihm das Dorf, in dem das Kind zur Welt gekommen,
wußte noch genau das Datum seiner Geburt und hatte weder den
Namen, auf welchen es getauft, noch jenen der Bäuerin, der es
zur Pflege übergeben worden war, vergessen.
Schließlich berichtete sie auch, daß die Komtesse,
dem Drängen ihrer Mutter nachgebend, einen reichen Pariser
Bankier, namens Fauvel, geheiratet habe. – –
    Die Alte hatte Louis schon lange verlassen, als er noch immer
unbeweglich auf demselben Fleck stand.
    Bei dem Namen des Bankiers war plötzlich ein
schändlicher Gedanke in ihm aufgezuckt. Der Bankier war reich,
sehr reich und aus dem Geheimnis ließ sich ein
schöner Vorteil herausschlagen. Zwar fühlte er
selber, daß das, was er im Sinne hatte, eine Niedertracht
wäre, allein – »Not kennt kein
Gebot,« sagte er sich und damit stand sein Entschluß
fest. –

15. Kapitel
    Zwanzig Jahre waren verflossen, seit Valentine André
Fauvel geheiratet hatte, und sie mußte es selbst bekennen,
daß sie diesen Schritt nicht zu bereuen gehabt hatte.
    Die alte Gräfin, die bis zu ihrem Tode bei ihrer
Tochter lebte, sagte ihr in ihrer Sterbestunde: »Gestehe,
daß ich recht daran tat, dich zum Schweigen zu
überreden. Du hast mir dadurch einen friedvollen Lebensabend
bereitet und du selber kannst dich nicht unglücklich
nennen.«
    Nein, in der Tat, unglücklich konnte sich Valentine
nicht fühlen, da ihr Mann sie auf Händen trug und
ihre Kinder ebenso gutgeartet als schön waren. Die
Schreckgespenster ihrer Jugend verblaßten immer mehr und mehr
und schließlich war die Erinnerung daran nur mehr wie an einen
bösen Traum. Sie widmete sich ganz der Erziehung ihrer Kinder;
zu ihren beiden Söhnen hatte sich noch ein drittes Kind
gesellt, ein kleines Mädchen, namens Magda, eine elternlose
Waise, Nichte ihres Mannes, die sie liebreich in ihrem Hause
aufgenommen hatte, und an der sie nun eine liebevolle Tochter
besaß.
    Eines Tages – der Bankier war in Geschäften
verreist – wurde ihr ein Brief überbracht, dessen
Adresse eine ihr völlig unbekannte Schrift aufwies. Da ihre
Wohltätigkeit allgemein bekannt war, wurde sie vielfach in
Anspruch genommen, es war daher nichts seltenes, daß Fremde
ihr schrieben und darum öffnete sie arglos das Schreiben.
    Aber ihr Herz erbebte, als sie es mit einem Blick
überflogen hatte, sie mußte es nochmals und abermals
lesen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht träume.
    Ach, es war keine Täuschung, da standen wirklich die
schrecklichen Worte:
    »Verehrte gnädige Frau!
    Hieße es zuviel Vertrauen in das
Gedächtnis Ihres Herzens setzen, wenn ich mich der Hoffnung
hingäbe, daß Sie mir eine halbstündige
Unterredung gewähren würden? Ich werde die Ehre
haben, morgen zwischen zwei und drei bei Ihnen vorzusprechen.
    Hochachtungsvoll
Marquis von Clameran«
    Marquis von Clameran! Die Vergangenheit war also nicht tot!
Sie hatte ihre Schuld noch nicht ganz gebüßt,
gesühnt! Nun stand das Gespenst drohend vor ihr!
    Die arme Frau war fast sinnlos vor Angst.

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