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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Mann verlangte von ihr niemals eine Abrechnung. Er hatte
ihr vom ersten Tage ihrer Verheiratung an den Schlüssel zu
seinem Privatschreibtisch eingehändigt und ohne
Einschränkung konnte sie daraus entnehmen, was sie zur
Bestreitung des Haushaltes und ihrer persönlichen
Bedürfnisse brauchte.
    Aber gerade weil sie stets so sparsam gewesen, konnte sie
nicht plötzlich über große Summen
verfügen, ohne daß es ihrem Manne aufgefallen
wäre. Wie, wenn er plötzlich Rechenschaft von ihr
gefordert hätte? Was sollte sie sagen? Raoul hatte sie schon
ein kleines Vermögen gekostet, sie hatte ihm eine Wohnung
eingerichtet, ihn ganz ausgestattet, er hatte ein Reitpferd
gewünscht und sie hatte nicht das Herz, es ihm abzuschlagen.
Aber er kam täglich mit neuen Wünschen, neuen Bitten,
und wenn sie ihm sagte, daß sie außerstande sei, sie
zu erfüllen, warf er sich ihr zu Füßen, bat
sie mit Tränen in den Augen wegen seiner Schlechtigkeit um
Verzeihung, sie sollte ihn nicht für undankbar halten, er
wäre ja ohnehin so tief unglücklich.«
    »Unglücklich?« rief die Mutter
verzweiflungsvoll.
    »Gewiß, unglücklich,«
entgegnete er, »bin ich denn nicht rechtlos? Meine
Brüder sind glücklich, die sind durch das goldene Tor
in das Leben eingegangen, sie haben Vater und Mutter und alles. Ich bin
verstohlen zur Welt gekommen, ich habe keinen
rechtmäßigen Namen, habe kein Anrecht weder auf deine
mütterliche Zärtlichkeit, noch auf deine Wohltaten
– – soll ich da nicht unglücklich
sein?«
    Nach solchen Reden war sie wieder vollständig
entwaffnet und zu jedem weiteren Opfer bereit.
    Als der Sommer kam und sich die Familie Fauvel wie
alljährlich auf ihr Gut bei Saint-Germain begab, sagte Raoul
eines Tages: »Mutter, ich habe mir in der Nähe ein
Häuschen gemietet, damit ich beständig bei dir sein
kann.«
    Valentine freute sich darüber und besonders, weil sie
hoffte, er werde auf dem Lande weniger Gelegenheit haben, Geld zu
verschwenden.
    Aber er war unverbesserlich.
    Er besuchte die Rennen und verlor.
    Das erste Mal nach einem solchen Abenteuer mied er das
Alleinsein mit der Mutter und machte das Geständnis,
daß er zweitausend Frank verloren, beim Mittagessen in
Gegenwart der ganzen Familie. Sie war entsetzt, wagte aber
natürlich vor den anderen nur sanfte Vorwürfe und
Ermahnungen.
    Aber Herr Fauvel unterbrach sie lachend und sagte:
»Ach, das Unglück ist nicht so groß, Mama
Lagors wird schon zahlen, wozu wären denn sonst Mamas auf der
Welt?«
    Frau Fauvel wurde so blaß wie eine Leiche. Jetzt
erkannte sie erst, in welch fürchterliches
Lügengewebe sie sich verstrickt hatte, als sie, Clamerans
Befehl gemäß, gesagt hatte, daß die Lagors
reich seien.
    Unterdessen fuhr ihr Mann heiter fort: »Mache dir
nichts daraus, mein Junge, wenn die Tante zankt; wenn du Geld brauchst,
komm zu mir, ich leihe dir soviel du willst.«
    Raoul ließ sich das nicht zweimal sagen, wenige Tage
darauf entlehnte er wirklich vom Bankier zehntausend Frank.
    Frau Fauvel war über diese Frechheit außer
sich, sie konnte nicht begreifen, was er mit all dem Gelde anfing und
entschloß sich, an Clameran, der sich schon längere
Zeit nicht hatte bei ihr blicken lassen, zu schreiben und ihn um seinen
Besuch zu bitten.
    Seine Vormundspflicht, meinte sie, wäre es, den
törichten Jüngling zum Maßhalten zu
bestimmen.
    Der Marquis tat äußerst empört, als
er von den Streichen seines Neffen – von denen er, wie er
sagte, keine Ahnung hatte, hörte, und es kam zwischen ihm und
Raoul zu einem heftigen Auftritt.
    Allein so wenig argwöhnisch auch Frau Fauvel von
Natur aus war, so wollte ihr der Streit der beiden doch sehr gemacht
erscheinen, und es schien ihr, als lachten die Augen, während
der Mund von den bittersten Worten überfloß.
    Sie wagte keine Bemerkung, aber der Zweifel war in ihrer Seele
erwacht. Zwar machte sie Raoul dafür in ihrer blinden
Mutterliebe nicht verantwortlich, vielmehr meinte sie, daß der
Marquis die Schwachheit und Unerfahrenheit seines Neffen
mißbrauche.
    Aber was konnte sie machen? Sie wußte, daß
sie diesem gewissenlosen Menschen preisgegeben war und nur
gefaßt sein mußte, daß er mit immer neuen,
immer schrecklicheren Forderungen an sie herantreten werde.
    Sie sollte nur zu bald erfahren, wie sehr ihre
Befürchtungen begründet waren.
    Eines Tages erschien der Marquis ernster denn je. Er klagte
heftig über Raoul und sagte: »Der

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