Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
hatte es keine Eile. Wenn aber Miller von Bayer tatsächlich irgend etwas erfahren hatte, dann konnte es sich nur um eine Information gehandelt haben. Was für eine Information das war, wußte einzig und allein der Werwolf. Deswegen mußte er ihn trotz seiner Angst vor der Wut seines Vorgesetzten anrufen.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis er einen öffentlichen Fernsprecher fand. Er hatte immer eine Handvoll Münzen für Ferngespräche bei sich.
Als der Werwolf den Anruf entgegennahm und die Nachricht hörte, bekam er einen Tobsuchtsanfall und überschüttete den bezahlten Killer mit Verwünschungen und Vorwürfen. Er brauchte mehrere Minuten, ehe er sich etwas beruhigte.
»Sie finden ihn, Sie Hornochse, und das gefälligst schnell. Weiß der Teufel, wo der Bursche jetzt stecken mag.«
Mackensen wies seinen Chef darauf hin, daß er doch wissen müsse, welche Informationen Miller von Bayer erhalten haben könnte.
Der Werwolf überlegte einen Augenblick lang.
»Mein Gott«, flüsterte er, »der Fälscher. Er hat den Namen des Fälschers erfahren.«
»Welchen Fälscher meinen Sie, Chef?« fragte Mackensen.
Der Werwolf hatte sich wieder gefangen.
»Ich setze mich jetzt gleich mit dem Mann in Verbindung und warne ihn«, erklärte er. »Schreiben Sie sich mal auf, was ich Ihnen jetzt durchsage.« Er diktierte Mackensen eine Adresse und fügte hinzu: »Sie machen jetzt, daß Sie so schnell wie möglich nach Osnabrück raufkommen. Sie finden Miller unter der Adresse, die ich Ihnen genannt habe, oder irgendwo anders in der Stadt. Wenn er nicht in dem betreffenden Haus ist, suchen Sie die Stadt so lange nach dem Jaguar ab, bis Sie ihn gefunden haben. Und diesmal bleiben Sie bei dem Jaguar. Das ist der Ort, an den er mit Sicherheit zurückkehrt.«
Er warf den Hörer auf die Gabel. Gleich darauf nahm er ihn wieder auf, um sich von der Auskunft eine Osnabrücker Nummer geben zu lassen, und rief sie an.
Aus dem Hörer, den Mackensen in einer Stuttgarter Telefonzelle in der Hand hielt, kam das Amtszeichen. Achselzuckend hängte er ein und ging zu seinem Wagen zurück. Die Aussicht auf die lange, anstrengende Fahrt und den anschließend zu erledigenden »Auftrag« war nicht gerade begeisternd. Ei war fast ebenso müde wie Miller, der sich jetzt schon dreißig Kilometer vor Osnabrück befand. Beide Männer hatten seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, und Mackensen hatte sogar seit dem Mittagessen am Vortag nichts mehr gegessen.
Mackensen war noch bis auf die Knochen durchgefroren von seiner nächtlichen Wache und wurde von dem Verlangen nach einer heißen Tasse Kaffee und einem Steinhäger gepeinigt. Trotzdem stieg er in seinen Mercedes zu der langen Fahrt nach Norden.
Kapitel 13
An Klaus Winzers äußerer Erscheinung gab es nichts, was auf seine ehemalige SS-Angehörigkeit hingewiesen hätte. Er hatte nicht annähernd die erforderliche Körpergröße von einsachtzig, und außerdem war er kurzsichtig. Er war vierzig Jahre alt, ein blasser, etwas schwammiger kleiner Mann mit blondem Haar und schüchternen Umgangsformen.
Tatsächlich war sein Leben weit ungewöhnlicher verlaufen als das der meisten Männer, die jemals die Uniform der SS getragen hatten. Er war 1924 in Wiesbaden als Sohn eines gewissen Johann Winzer geboren. Sein Vater war ein ungeschlachter, großmäuliger Metzgermeister, der seit den frühen zwanziger Jahren ein ergebener Gefolgsmann Adolf Hitlers und seiner Partei war. Die lärmende Heimkehr seines Vaters von Straßenschlachten mit Kommunisten und Sozialdemokraten gehörte zu den frühesten Kindheitseindrücken von Klaus Winzer.
Zum Verdruß seines Vaters schlug Klaus der Mutter nach und wuchs zu einem schwächlichen, kurzsichtigen und friedlichen Knaben heran. Klein war er außerdem. Er haßte körperliche Gewalt, jeglichen Sport und den Dienst in der Hitlerjugend. Es gab nur eines, was ihn begeisterte: Seit seinem zehnten oder elften Lebensjahr war er ganz besessen von der Kunst des Schönschreibens und der Ausschmückung handschriftlicher Manuskripte – eine Vorliebe, die sein Vater verächtlich als weibisch abtat.
Mit der Machtergreifung der Nazis kam der Metzger zu beträchtlichem Wohlstand; für die treuen Dienste, die er der Partei geleistet hatte, wurde er mit einem Exklusivvertrag belohnt. Dieser Vertrag sicherte ihm die Fleischbelieferung der örtlichen SS-Kasernen. Er bewunderte die schmuck einherstolzierenden SS-Jünglinge grenzenlos und hoffte inständig, den eigenen Sohn eines
Weitere Kostenlose Bücher